Zwillingsbrut
sollte es auch anders sein? Keines ihrer Kinder nahm einen ihrer Anrufe direkt entgegen. Sie schrieb eine SMS :
Wo bist du? Die Schule hat angerufen, du würdest blaumachen. Melde dich!
»Großartig«, brummte sie und rollte mit ihrem Schreibtischstuhl nach hinten. Nachdem sie einen Blick auf die Uhr geworfen hatte, stand sie auf und ging zu Selena Alvarez’ Arbeitsplatz im Großraumbüro des Sheriffs von Pinewood County. Ihre Partnerin hockte zusammengekauert vor ihrem Schreibtisch. Den Telefonhörer zwischen Ohr und Schulter geklemmt, sah sie die ordentlichen Papierstapel durch, die sich vor ihr auftürmten. Alvarez’ dichtes schwarzes Haar war zu einem dicken Knoten am Hinterkopf zusammengebunden und glänzte bläulich unter der Deckenbeleuchtung.
Als Pescoli näher kam, blickte sie auf und hob einen Finger.
»Ja, ich weiß, aber ich warte jetzt schon seit einigen Wochen auf diese Testergebnisse«, sprach sie mit fester Stimme in den Hörer, einen ungehaltenen Ausdruck im Gesicht. Wenn Alvarez eines nicht ertragen konnte, so war es Inkompetenz. »Hm-hm … ja, nun, wir sind alle unterbesetzt. Ich bekomme die Ergebnisse in … Wie bitte? Wenn das das Beste ist, was Sie tun können … einverstanden … morgen ist in Ordnung.« Sie legte auf, schäumend vor Zorn. »Wollen wir wetten, dass ich auch morgen noch nicht weiß, was in Donna McKinleys Blutkreislauf war?« Regans Partnerin lehnte sich zurück und blickte finster auf ihren Computermonitor, auf dem das Foto einer Frau zu sehen war. »Ich würde das einfach gern vom Schreibtisch haben, verstehst du?«
Pescoli verstand. Sie beide hätten gern bestätigt bekommen, dass es sich bei Donna McKinleys Tod um einen Unfall handelte, dass sie am Steuer eingeschlafen und von der Straße abgekommen war. Dass sie nicht irgendeiner schändlichen Tat ihres Ex-Knackis von Lebensgefährten, Barclay Simms, zum Opfer gefallen war, der vor gerade mal drei Wochen eine Hunderttausend-Dollar-Lebensversicherung auf Donna abgeschlossen hatte. Dabei bezog er Arbeitslosengeld.
Alvarez seufzte laut. »Entschuldige.«
»Kein Problem. Ich wollte dir ohnehin nur sagen, dass ich unterwegs bin. Muss meine Tochter aufspüren.«
»Schwänzt sie die Schule?«
»Sieht ganz danach aus«, erwiderte Pescoli kopfschüttelnd. Bis vor einem Jahr war Bianca eine hervorragende Schülerin gewesen, hatte immer die besten Leistungen erbracht und war stolz darauf gewesen. Doch dann, in ihrem letzten Jahr auf der Junior High, war es mit ihren Noten plötzlich bergab gegangen. Sie hatte versprochen, dass sich das ändern würde, wäre sie erst auf der Highschool, »wo es wirklich drauf ankam«. Doch bislang hielt sie ihr Wort nicht.
»Ich halte die Stellung«, sagte Alvarez, was in der Tat stimmte. Sie war ein echter Workaholic, der sich selten an die normalen Arbeitszeiten hielt. Pescolis Partnerin war alleinstehend und ging völlig in ihrem Job auf. Mitunter hatte Regan den Eindruck, ihre jüngere Kollegin habe keinerlei Sozialleben, was schade war. Doch heute blieb ihr keine Zeit, um darüber nachzudenken.
»Ich schulde dir was.«
Alvarez schnaubte. »Ich werde dich daran erinnern.«
Genau wie an die anderen hundert Male,
dachte Pescoli, während sie sich Jacke, Schal und Mütze schnappte und aus dem Büro hinauseilte. Auf dem Weg nach draußen kam sie am Aufenthaltsraum vorbei, wo Joelle Fisher, die Empfangssekretärin des Dezernats, Schachteln voller Weihnachtsschmuck öffnete. Silberne Sterne, glitzerndes Lametta, künstliche Zuckerstangen, Lichterketten, ein sich drehender Miniaturtannenbaum und sogar ein etwas lüstern dreinblickender Santa Claus, der Pescoli noch nie ganz geheuer gewesen war, sammelten sich auf den leeren Tischen, während Joelle überlegte, wie sie das Department »ein bisschen weihnachtlich« gestalten sollte. Warum Sheriff Dan Grayson diesem Unsinn keinen Riegel vorschob, entzog sich Pescolis Verständnis. Der stets überschäumenden Joelle mit ihren kurzen blonden Locken, den riesigen Ohrringen und den Zehn-Zentimeter-Absätzen schien nicht aufzufallen, dass ihre Kollegen dem Geist der Weihnacht nicht mit derselben Überzeugung und Begeisterung anhingen wie sie.
»He, Regan!«, rief Joelle ihr hinterher. Pescoli blieb stehen, warf einen Blick in den Aufenthaltsraum und stellte fest, dass Joelle bereits eine Rudolph-Brosche mit blinkender roter Nase trug. »Du weißt doch sicher, dass wir Montag früh auslosen, wer wen beim Wichteln beschenkt, oder?«
»Und du
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