Zwillingsbrut
weißt sicher, dass es bis Weihnachten noch über sechs Wochen sind.«
»Das geht schneller, als du denkst«, entgegnete Joelle gelassen. »Nächsten Dienstag ist schon Thanksgiving, und warum sollten wir die festliche Zeit nicht so lange genießen wie möglich?«
»Weihnachten im Juli? Ohne mich!«
»Jetzt sei doch nicht so eine Spielverderberin!«, schmollte Joelle, doch ihre Mundwinkel zuckten. »Am Montag um acht. Du kommst, oder?«
»Mit Glöckchenklang, klingelingeling«, brummte Pescoli. Sie konnte wahrhaftig keinerlei wie auch immer geartete weihnachtliche Gefühle aufbringen, solange sie nicht wusste, wo ihre Tochter steckte.
»Schlittenglöckchenklang, wenn ich bitten darf!« Joelle kicherte über ihren eigenen Scherz und wandte sich glücklicherweise wieder dem Aufenthaltsraum und ihrer Weihnachtsdekoration zu.
Verrückt,
dachte Pescoli, während sie die Außentüren am Ende des Gangs aufdrückte und einen schmalen Weg entlanghastete, der die spröde Grasfläche durchschnitt. Hätten die vereinzelten kleinen Schneeflächen sie nicht daran erinnert, dass es in West Montana bereits Winter war, dann hätte es mit Sicherheit der eisige Wind getan, der an der Kette der Fahnenstange riss.
Am Jeep angekommen, stieg sie ein und ermahnte sich, nicht nach der Schachtel Marlboro Lights zu suchen, die sie »für den äußersten Notfall« im Handschuhfach versteckte. Offiziell hatte sie im vergangenen Januar mit dem Rauchen aufgehört, nachdem ein gemeingefährlicher Irrer sie beinahe umgebracht hatte, doch ab und zu, wenn es einfach zu hart kam, steckte sie sich heimlich eine an. Und sie hatte sich geschworen, dass sie deswegen kein schlechtes Gewissen haben würde.
Dass ihre Tochter blaumachte, war kein Notfall, der sie zur Zigarette greifen ließ, aber der Tag war noch nicht vorbei. Womöglich steckte Bianca in Schwierigkeiten. Bei ihrer Arbeit bekam Regan genug Schreckliches zu Gesicht – Opfer grauenhafter Unfälle, ausrastende Ehemänner, durchgeknallte Psychopathen –, aber sie verdrängte, was alles passiert sein könnte, stellte die Automatik auf R und wartete, bis Cort Brewster, der stellvertretende Sheriff, hinter ihrem Jeep vorbeigerollt war. Brewster und sie waren sich noch nie ganz grün gewesen, und schon gar nicht, seit Regans Sohn Jeremy mit Brewsters kleiner Prinzessin Heidi zusammen war und Jeremy für jedes noch so kleine Problem verantwortlich machte, das Heidi betraf.
»Dass ich nicht lache«, murmelte Pescoli und setzte, ohne Brewster zu grüßen, aus der Parklücke. Ihrer Meinung nach war der Kerl ein arroganter Heuchler, und sie betete inbrünstig, dass sie nicht seinen Namen zog, wenn Joelle am Montag ihre alberne Wichtelauslosung veranstaltete. Loszugehen und nette kleine Geschenke für ihn zu kaufen, die sie dann in seinem Schreibtisch oder Wagen versteckte, war mehr, als sie ertragen konnte.
Oder war sie einfach nur kleinlich? Regan konzentrierte sich auf den Verkehr und versuchte erneut, ihre Tochter anzurufen. Der Anrufbeantworter meldete sich. Natürlich. »Komm schon, Bianca, geh dran«, drängte sie.
Obwohl es nicht mal Abend war, wurde es bereits dunkel.
Sie rief zu Hause an, wo sie immer noch einen Festnetzanschluss hatten. Es klingelte viermal, dann wurde der Hörer abgenommen. »Hallo?«, meldete sich ihr Sohn gleichgültig, und Pescoli, die vor einer roten Ampel abbremste, verspürte für einen kurzen Augenblick Erleichterung. Wenngleich sie sich wunderte, was Jeremy, der im Sommer ausgezogen war, zu Hause machte, doch dafür war jetzt keine Zeit. Noch nicht.
»Hier spricht Mom. Ist Bianca da?«
»Ja.«
Gott sei Dank.
»Ist alles in Ordnung mit ihr?«
»Ähm … ja, ich denke schon.«
»Hol sie ans Telefon.«
»Sie schläft.«
»Das ist mir egal!«
»Verdammt, du musst doch nicht gleich schreien!«
»Und du musst nicht fluchen.«
»Na schön, ich geh ja schon.«
Die Ampel sprang auf Grün. Als sie Richtung Boxer Bluff fuhr, einem ziemlich steilen Berg, auf dem der obere Teil der Stadt lag und an dessen Hängen sich die Besserbetuchten von Grizzly Falls niedergelassen hatten, hörte sie gedämpfte Stimmen, bis sich ihre Tochter endlich mit einem verschlafenen »Ja?« meldete.
»Was ist los?«, fragte Pescoli scharf.
»Was soll schon los sein?«, fragte Bianca zurück.
»Die Schule hat angerufen, um mir mitzuteilen, dass du nicht zum Unterricht erschienen bist.«
»Es ging mir beschissen.«
»Schlecht«, korrigierte Pescoli automatisch, während sie
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