Zwillingsbrut
würde es heute nicht lange hell sein, die Straßenlaternen vor dem Apartmentgebäude, das sie ihr Zuhause nannte, brannten schon.
Jocelyn arbeitete als Lehrerin, da sah sie den Winter über nicht viel Tageslicht, also ergab sie sich wochentags der Tretmühle und ging an den Wochenenden joggen, soweit das Wetter es erlaubte.
Aber vielleicht sollte sie es heute besser sein lassen. Seit ein paar Tagen fühlte sie sich einfach lausig. Nicht dass eine Grippe im Anzug war, nein, sie war einfach ausgepowert und hätte am liebsten nur geschlafen.
Sie trank einen Rest Kaffee, der vom Vormittag übrig geblieben war, schüttete den letzten Schluck ins Spülbecken, schaute auf die Uhr und runzelte die Stirn. Schließlich gab sie sich innerlich einen Ruck und ging aus der Küche in den Flur, wobei sie beinahe über die Wasserschüssel ihrer Katze gestolpert wäre. Die Katze, ihr Liebling, war eine Streunerin, die vor gut vier Wochen bei ihr aufgekreuzt, aber seit zwei Tagen wieder verschwunden war. Besorgt hatte Jocelyn nach ihr Ausschau gehalten, hatte sogar die örtlichen Tierheime abtelefoniert, doch vergeblich. Sobald sie vom Joggen zurückkäme, würde sie Himmel und Hölle in Bewegung setzen, um Kitty wiederzufinden.
Jocelyn schob den Gedanken an die verschwundene Katze beiseite und öffnete die Tür zu ihrem zweiten Schlafzimmer, in dem sich alles Überflüssige aus dem Wohnzimmer ansammelte. Bücher und ausrangierte Kleidung stapelten sich auf einem Bügelbrett, ein alter Fernseher, den sie besaß, seit sie zehn war, stand auf der Kommode, Säcke voller Klamotten, die längst nicht mehr passten, türmten sich in einer Ecke und warteten darauf, dass sie sie endlich zum kirchlichen Wohltätigkeitsladen brachte. Sogar ein paar Weihnachtsgeschenke, die sie auf einem Schulbasar gekauft hatte, lagen da, mit kleinen Kärtchen versehen und auf das Doppelbett geschleudert, worin sonst ihre Gäste schliefen.
Welche Gäste?
Die Wahrheit war, dass niemand bei ihr übernachtet hatte, seit sie vor zwei Jahren nach ihrer zweiten Scheidung wieder zurück nach Grizzly Falls gezogen war.
»Erbärmlich«, sagte sie zu sich selbst.
In einer anderen Ecke des Zimmers hatte sie sich ihr »Büro« eingerichtet. Auf einem alten Schreibtisch standen Computer und Drucker; in seinen Schubfächern bewahrte sie ihre persönlichen Unterlagen auf. Der Wandschrank hing voller Kleidungsstücke, die sie irgendwann gern wieder getragen hätte, hätte sie erst einmal abgenommen, außerdem lagerten darin ihre Arbeitsmaterialien für das kommende Schuljahr: Kunst, Naturwissenschaften, Mathematik.
Schnell und noch bevor sie ihre Meinung ändern konnte, streifte Jocelyn Jeans und Pullover ab und schlüpfte in Jogginghose, Shirt und Fleecejacke. Sie band ihr Haar zu einem Pferdeschwanz zusammen, setzte eine Baseballkappe auf und schnürte ihre Laufschuhe. Dann sah sie sich suchend nach ihrem Handy um, doch sie konnte es auch im Flur nicht finden; das verflixte Ding war seit gestern Abend verschwunden.
Sie hasste es, ohne Handy aus dem Haus zu gehen, aber ihr blieb wohl keine andere Wahl. Nicht, wenn sie wieder in Form kommen wollte.
»Pech!«, murmelte sie und zog die Wohnungstür hinter sich zu.
Auf ihrer kleinen Eingangsveranda steckte sie sich die Stöpsel ihres iPods in die Ohren und stellte die Musik zusammen, zu der sie laufen wollte, dann machte sie ein paar Dehnübungen.
Jetzt oder nie!
Sie joggte los und beschleunigte auf ein angenehmes Tempo; ihre Schuhsohlen trafen im Rhythmus zu Lady Gagas »Bad Romance« auf den Asphalt, ihre Arme schwangen energisch vor und zurück. Die ersten Schneeflocken fielen schon vom Himmel.
Sie wandte sich nach Süden, schlug die Route ein, die sie für gewöhnlich nahm. So konnte sie entweder eine Zwei- oder eine Drei-Meilen-Runde drehen, je nachdem, wo sie kehrtmachte. Heute, so schwor sie sich, würde sie die große Strecke laufen. Wenn sie ihren Kreislauf nur genügend in Schwung brachte, verschwände vielleicht auch das unangenehm grippige Gefühl. Das Virus ging um an der Evergreen Elementary, der Grundschule, wo sie arbeitete.
Langsam kam sie in Schwung, der Takt der Musik hämmerte in ihren Ohren. Gleichmäßig atmend lief sie durch Pfützen aus Schneematsch und wich den wenigen Autos und Lastwagen aus, die die Straße entlangfuhren. Ein dunkler Pick-up verfolgte sie ein paar Blocks weit, doch als sie aufblickte und zum Fahrer hinübersah, zog er endlich an ihr vorbei. Sie hatte ihn nicht direkt
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