Zwillingsbrut
selbst nicht recht glauben, dass der Tod von Shelly Bonaventure mit dem von Jocelyn Wallis in Zusammenhang stand, aber sie ging lieber auf Nummer sicher.
Die Tatsache, dass die Opfer einander so ähnlich sahen, beunruhigte sie.
Sie gab der scheuen Mrs. Smith Futter, doch die Katze versteckte sich.
Gib ihr Zeit,
sagte sie sich, während sie in einem Zug ihren Powershake aus Heidelbeeren, Bananen, Joghurt und Weizenkleie hinunterstürzte. »Champions-Frühstück«, murmelte sie, dann schnappte sie sich ihre Sporttasche und eilte nach draußen.
Natürlich war der Schnee überfroren, die eisige Schicht glitzerte auf den Gehwegen, den Bäumen und Sträuchern der umliegenden Gärten, trotzdem fuhr sie mit ihrem Jeep von dem rutschigen Parkplatz und bog auf die Landstraße ein, die während der Nacht mehrfach geräumt und gestreut wurde.
Zum Glück war so früh am Morgen kaum Verkehr im Zentrum von Grizzly Falls; eine schwache Sonne ging langsam im Osten auf und zog rosa Streifen durch die grauen Wolken. Sie stellte das Radio an. Der Wetterbericht war gerade vorbei, »Up on the Rooftop« tönte aus den Lautsprechern, doch sie hörte kaum hin, so beschäftigt war sie damit, das peinliche Thanksgiving-Essen mit der Fünfziger-Jahre-Hausfrau Hattie und ihren beiden Kindern in Graysons Haus aus ihren Gedanken zu verbannen. Was für ein entsetzlicher Fehler war es doch gewesen, die Einladung des Sheriffs anzunehmen!
Schwägerin … na klar!
Albernerweise spürte sie, wie ihre Wangen rot wurden. »Nie wieder«, schwor sie sich und wechselte die Spur, um einen langsam fahrenden Pick-up mit einer Ladung Weihnachtsbäumen zu überholen, während aus dem Radio ein Chor von Kinderstimmen »Ho, Ho, Ho!« schmetterte.
Vor dem Fitnessstudio bog sie ab, auf einen nahezu leeren Parkplatz.
»Up on the housetop,
click, click, click,
down thru’ the chimney
with good Saint Nick.«
»Schluss damit!« Alvarez schaltete das Radio aus und stellte den Jeep in der Nähe des Haupteingangs ab. Das Gebäude war riesig, ein Olympiaschwimmbecken, mehrere Saunas, Krafträume und Basketballplätze waren darin untergebracht. Sie schrieb sich in die Anwesenheitsliste ein, schnappte sich ein Handtuch und ging zur Damenumkleide, wo sie ihre Tasche einschloss.
Beim Trainieren, so hoffte sie, würde sie endlich wieder den Kopf freibekommen. Heute würde sie ein fünfundvierzigminütiges Cardio-Workout am Crosstrainer machen, dann eine halbe Stunde Gewichte an verschiedenen Maschinen stemmen, um gezielt gewisse Körperpartien zu straffen.
Normalerweise schaltete sie nach ungefähr der Hälfte des Trainings ab, und sämtliche Fragen, die sie während eines Falls beschäftigten, lösten sich auf oder machten plötzlich Sinn, doch heute war das anders. Sie fand keine Antworten zum Tod von Jocelyn Wallis. Stundenlang war sie die Telefonlisten und Rechnungen der Frau durchgegangen, sogar ihren Müll, doch ihr war nichts Merkwürdiges oder Verdächtiges aufgefallen, und einen alles erhellenden Geistesblitz hatte sie auch nicht gehabt. Die Ex-Männer hatten Alibis; die Scheidungen waren stets gütlich verlaufen.
Ein Testament war nicht gefunden worden, zumindest noch nicht, die Lebensversicherung war nicht der Rede wert.
Die Lehrerin hatte nur wenige Freunde, Feinde waren keine bekannt, und sie hatte keinerlei Verbindung zu Shelly Bonaventure, abgesehen von ihrem Geburtsort und ihrem Äußeren. Der Fall war höllisch frustrierend.
Alvarez wischte sich mit dem Handtuch die Stirn, setzte sich an eine Beinpresse und stellte die Gewichte höher ein. Ihre Muskeln waren jetzt gelockert, und sie schaffte drei Einheiten mit je fünfzehn Wiederholungen. Als sie fertig war, drang ihr zwar der Schweiß aus jeder Pore, aber sie wusste nicht mehr als vorher.
Entmutigt ging sie unter die Dusche und redete sich ein, die Wahrheit würde schon ans Tageslicht kommen. Sie müsste sich nur etwas mehr Mühe geben, ein bisschen weiter nachforschen.
Kacey rieb sich ihren verspannten Nacken und blickte auf die Uhr in ihrem Büro. Viertel nach zwei. Der Vormittag war nur so verflogen. Ein Termin war auf den anderen gefolgt, und wieder waren mehrere Patienten dazwischengeschoben worden. Die Tatsache, dass es das Thanksgiving-Wochenende war –
das
Shopping-Wochenende des Jahres –, schützte die Leute nicht vor Grippeviren, Bronchitis, Erkältungsinfektionen oder ausgerenkten Daumen.
Sie hatte heute Vormittag schon in so viele Hälse und Ohren geblickt wie sonst an
Weitere Kostenlose Bücher