Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Zwischen den Gezeiten

Zwischen den Gezeiten

Titel: Zwischen den Gezeiten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Wallner
Vom Netzwerk:
niederlag, mußte Inga die Einweisung in die Gefängnisbaracke tippen. Beim Schreiben der Haftbegründung hielt sie inne, zog das Blatt aus der Maschine, wechselte die Blaupause – ihr waren bei dem Wort Diebstahl zwei Fehler unterlaufen. Am nächsten Tag trat der Flieger die Strafe an, ein drahtiger Bursche mit hellblondem Haar, der die Montur an der Brust gerne offen trug. Vom Fenster beobachtete Inga, wie Militärpolizisten ihn zum Haftblock an der Westseite brachten.
    Seit jenem Abend mied sie das Schloß und das Kosigk-Palais, nahm Umwege in Kauf, um dem Leutnant selbst zufällig nicht zu begegnen. Sie aß mit den anderen Civilian Employees im Casino, fuhr auf dem Transporter in die Stadt, plauderte mit den Soldaten.
Daheim holte sie selbstgemalte Bilder vom Speicher und machte ihr Zimmer gemütlicher. Fernzubleiben schien ihr die beste Lösung zu sein.
    Marianne spürte die Veränderung an der Tochter, deutete deren Ernüchterung als Heilung. Auch wenn die Mutter sich wünschte, einmal wieder im Auto chauffiert zu werden, fragte sie nie nach Henning; der Engländer wurde mit keinem Wort erwähnt. Erik schwelgte in Kochrezepten, die erste Rente stand vor der Auszahlung, alle bemühten sich, Familie zu sein.
    Einmal beim Abendbrot brachte Erik das Chorkonzert ins Gespräch, das im Kosigk-Palais stattfinden sollte. Er und Marianne wünschten sich hinzugehen, sie sprachen von den prächtigen Soireen, die früher bei Kosigks gegeben worden seien, noch bis tief in den Krieg. Inga mußte an die elfenbeinfarbene Speisekarte denken, die Artischockensuppe, das grüne Zimmer; sie erzählte nichts davon. General Kosigk, berichtete Marianne, habe Februar fünfundvierzig die Front nach Süden durchbrochen, um seiner Armee die russische Gefangenschaft zu ersparen. Er erkannte das alliierte Tribunal, das ihn verurteilte, nicht an. Bis zuletzt bemühte sich Marion Kosigk darum, eine Kugel für ihn zu erwirken, als Soldat habe er Anspruch auf Erschießung. In der Zeitung stand, die Engländer hätten ihn gehenkt.
    Â»Habt ihr von einem Mann namens Gabor gehört?« fragte Inga. »Ich kenne nur einen schwarzen Gabor «, antwortete Erik. »Er hat den Ruf, zu besorgen, was sonst keiner kriegt. Hüben wie drüben schätzen sie seine Dienste.«
    Inga wollte nicht an die Vier im Lichtkegel denken, doch die Bilder vom Spieltisch stellten sich ein. Der feiste Major, der seine Brille putzte, sooft er sich einer Sache nicht sicher war, das unechte Haar der Kosigk, die wie ein Seemann fluchte; die ineinandergeschlungenen Finger des Leutnants. Der schroffe Abschied, seine Kränkung – Inga verfluchte die gönnerhafte Art, mit der sie ihn überlisten wollte –, am verpatzten Ausgang des Abends hatte nur sie schuld.

    Ob sie im Büro auf dem Bleistift kaute, im Casino übers Essen gebeugt war oder das Gesicht in den Fahrtwind hielt: Immerzu umkreisten Ingas Gedanken das Spiel. Ständig wurde sie von Kombinationen heimgesucht – ein König in der Hinterhand, gepaart mit zwei Zehnern als Auslöser für die Dreiervariante – tauchte die rote Dame beim Gegner auf, mußte die eigene Königin bis zum Schluß zurückgehalten werden – wie hob man die dritte Sieben aus dem Paket, ohne daß es die andern bemerkten? In jeder müßigen Minute prallten solche Volten in Ingas Kopf aufeinander; die Entbehrung, sie nicht erprobten zu können, bekam etwas Körperliches. Im Dienst wurde sie unkonzentriert. Der Sergeant, sonst Nutznießer ihrer Verläßlichkeit, prüfte Schriftsätze nun wieder selbst, bevor er sie hinausgehen ließ. Inga haßte an sich diese Fahrigkeit, die daher rührte, alles zugleich und nichts richtig zu machen. Vor allem aber haßte sie ihre unausgesetzte Sehnsucht zu spielen.
    In der Not floh sie zu einer kindischen Befriedigung. Eines Abends, sie hatte das Geschirr abgeräumt, stieg Inga auf den Speicher und holte ihre Muschelsammlung. Sie stellte sie vor den Eltern auf den Tisch.
    Â»Die Engländer haben mir ein Spiel beigebracht«, begann sie.
    Â»Mit Muscheln?« fragte Marianne.
    Inga erklärte die Regeln und sagte, daß es weniger auf Glück als die Gabe zu kombinieren ankam. Vollkommen harmlos, redete sie sich ein, kein hoher Einsatz, weder Gewinn noch Verlust und doch die Aussicht zu hasardieren.
    Neugierig räumte der Vater die alte

Weitere Kostenlose Bücher