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Zwischen den Gezeiten

Zwischen den Gezeiten

Titel: Zwischen den Gezeiten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Wallner
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das Gelächter fröhlich.
    Inga gewann dreimal in Folge, ihr wurde heiß, heimlich schlüpfte sie aus den Schuhen. Sie spürte Schweiß im Halsgrübchen, fand es unschicklich, ihn abzuwischen.
    Â»Anfängerglück«, schüttelte der Major den Kopf.
    Als die Reihe auszuteilen zum dritten Mal bei Inga war, hatte sich der Haufen auf ihrer Seite verdoppelt. War es das, was der Leutnant den großen Coup nannte – Sieg, Zuversicht, das Gespür für Erfolg, die Gewißheit, bei jedem Schritt die rechte Entscheidung zu treffen? Sie hatte gute und schlechte Blätter, nützte jedes zum Besten, forderte heraus, zog sich im rechten Moment zurück, nahm den Hasard der anderen an. Sie spielte rauschhaft, beherrschte die Karten, als habe sie ihr Lebtag nichts anderes getan. Einmal ging der Flüsterer mit dem Einsatz so hoch, daß die Generalin ihn ans Limit erinnerte – er versuchte den Sieg zu erzwingen  –, Ingas Blatt übertrumpfte seinen Bluff. Wütend griff er nach den Zigaretten.
    Die Generalin fand den Zeitpunkt für eine Unterbrechung gekommen, die Türen öffneten sich, sie ging, um nach ihren Gästen zu sehen. Getränke wurden serviert, Gabor bediente sich ausgiebig beim Cognac. Nun erst fiel Inga auf, wie lange der Leutnant fortblieb. Sie wollte ihren Triumph mit ihm teilen, hatte Lust, von ihrem großen Coup zu erzählen, und folgte den Kellnern nach draußen. Der Korridor führte in den Salon, ein Blick in die Runde, ausgelassene Stimmung, der Leutnant war nicht dabei. Inga wandte
sich zum Garten, die Tür stand angelehnt, das Licht von drinnen erhellte nur die ersten Meter. Kein Garten, begriff sie, ein Park, begrenzt durch einen schmiedeeisernen Gürtel; der Mond gab den Bäumen silberne Kronen. Vom Gefühl des besonderen Abends umfangen, ging sie hinaus. Zwei Küssende trennten sich, als sie Ingas Schritte hörten.
    Das Haus bestand aus zwei Trakten, verbunden durch einen Laubengang. Sie entdeckte die Stelle, wo die Bombe das Gebäude getroffen haben mußte. Vom Dach bis zum Erdgeschoß klaffte ein Riß, Mauerteile waren zusammengefallen, ausgebrannte Fensterhöhlen  – Inga raffte ihr Kleid und näherte sich der Stelle. Eine Treppe führte aus den Rabatten ins Erdgeschoß, auch sie halb zerstört, vorsichtig trat Inga auf eingesunkene Stufen. Gekreuzte Bretter verrammelten die Tür, doch daneben durchzog ein Spalt das Mauerwerk, breit genug, daß ein Kind durchschlüpfen konnte. Sie schaute zurück, die Küssenden waren verschwunden; sie setzte den ersten Schritt ins Dunkel, spürte kalten Stein an der Haut, Staub rieselte.
    Mit vierzehn war sie durch ein Oberlicht in die Andreaskirche geklettert, ohne einen besseren Grund als hineinzugelangen. Vom Seitenschiff aus hatte sie den Glockenturm erobert, war über eine gewendelte Treppe hinaufgelangt und hatte die ganze Stadt überblickt. Als es dämmerte, wollte sie nach Hause. Inzwischen hatte jemand das Oberlicht geschlossen, auch die Türen waren versperrt; zu Füßen des Heiligen Sebastian legte Inga sich schlafen und verbrachte die Nacht in der Kirche. Damals wütete der Krieg am heftigsten, die Engländer hatten die Grenze überschritten, für die Eltern war Inga die Nacht lang verschollen. Um schlimmere Züchtigung durch Marianne zu verhindern, hatte der Vater Inga die Prügel verabreicht; in seinen Augen las sie keinen Zorn, nur Bedauern.
    Es war unbedacht und sinnlos, in das zerbombte Gebäude zu schlüpfen, außerdem konnte sie ihr Kleid schmutzig machen. Der riesige Raum schien leer, das Licht durch die Fensterhöhlen
reichte nicht aus, seine Begrenzung zu erhellen. Ingas Fuß tastete weiter.
    Der Laut kam hoch und zischend, ihr völlig unbekannt, etwas raschelte, nicht Stoff oder Laub – Stille, jetzt wieder Bewegung und das Zischen, als ob jemand pfiff, der es nicht beherrschte. Mit aufgerissenen Augen und vorgestreckten Armen näherte sich Inga dem Geräusch, stieß gegen Metall, ein fester Rahmen aus Maschendraht, im Innern bewegte sich etwas. Dort huschte ein Tier, mehrere, prallten gegen Hindernisse, das Metall erzeugte jenes helle Geräusch – es mußten Käfige sein. Vorsichtig tastete Inga am Drahtgeflecht entlang, plötzlich eine Berührung neben ihrem Arm, intensiver Geruch, beißend wie Gerbsäure oder Gülle, wenn sie frisch aus dem Misthaufen

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