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Zwischen den Gezeiten

Zwischen den Gezeiten

Titel: Zwischen den Gezeiten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Wallner
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Berlin aufgeben, geben sie Europa auf. Die Befürchtung, daß alles Land bis zur Nordsee rot werden könnte, kam den Einheimischen zugute. Sie waren nicht mehr die Brut, die niederzuhalten war, man überlegte, wie aus Verlierern Verbündete wurden. Hier am Tisch saßen vier, die Witwe eines gehenkten Kriegsverbrechers, ein Schieber aus dem Osten, ein britischer Besatzungsmajor und die Tochter des bügelnden Nazis. So sah die Zukunft aus.
    Wer hatte den nächsten Zug, welches Blatt sprach, wie hoch hatte sie gesetzt? Herrgott, wo war sie mit ihren Gedanken? Mit dem Fuß stieß Inga die Tasche an, erschrak, wie leicht sie geworden war. Sie hielt ein Neunerpaar in der Hand. Könige beim Major, drei Buben zeigte die Kosigk; ein Haufen Jetons lag vor Gabor, die
hatten eben noch Inga gehört. Der Brillenträger, nicht unzufrieden, notierte Kolonnen auf einen Zettel. Inga riß sich zusammen – die Serie war zu wenden –, sie versuchte die Blätter der anderen zu kombinieren. Bald lernte sie das Gefühl kennen, mit schwindender Hoffnung zu hasardieren, kein Bluff gelang, die Karten wurden zu Feinden, hämische Damen und fletschende Buben, wie es der Leutnant vorausgesagt hatte. Trotz der Aussichtslosigkeit vermochte Inga nicht aufzuhören und spielte, bis die letzte Banknote zum Vorschein kam. Sie setzte auf ein niedriges Paar, nach zwei Runden war alles verloren. Während Gabor das Geld einstreifte, bückte sie sich und zeigte den andern die leere Tasche. Unmut beim Major, der fürchtete, der Abend könnte früher zerfallen, als ihm lieb war. Auch Gabor wollte nicht, daß Inga ausschied, und bot ihr einen Stapel Jetons als Darlehen an.
    Was Inga am meisten überraschte, war die eigene Erleichterung. Die Madonna, das Geld, alles dahin – ohne Furcht konnte sie heute nacht die Reisetasche an den Eltern vorbeitragen, sie barg kein Geheimnis mehr. Sie würde ihr Fenster öffnen, die warme Nachtluft einlassen, mit verschränkten Armen wollte sie daliegen und das plötzliche Ende genießen.
    Grölen und Lachen von draußen, der Spießrutenlauf durch das überfüllte Lokal schreckte sie ab, doch sie nahm nicht die Hintertür. Inga bedankte sich, verabschiedete sich im Gehen und verließ das Zimmer.
    I will never go home anymore, sangen sie in der Ecke; die meisten vom Militär, nur wenige Frauen. Während Inga durch den Trubel schlüpfte, bemerkte sie den Leutnant am Tresen. Er trank nicht, hatte wohl gar nichts bestellt, starrte an die gegenüberliegende Wand; ein Schrank stützte den geborstenen Balken, der die Decke trug. Der Soldat neben ihm, kantiger Bürstenschnitt, sprach Inga an. »Wohin so eilig?«
    Hayden drehte sich um und musterte sie wie einen Hund, den man nicht los wird. Seine Stirn und die Wangen bedeckte ein glänzender Film, violette Ränder unter den Augen.

    Â»Tschuldige, wußte ja nicht –« sagte der Bürstenschnitt.
    Inga zwängte sich neben den Leutnant und hielt ihm die leere Tasche entgegen, schüttelte sie, als sei das Ganze ein Spaß.
    Â»Geh nach Hause«, sagte er leise. Solche Komplizenschaft wollte er nicht.
    Â»Irgendwas gibt es immer zu verkaufen«, versuchte sie die Sache als Bagatelle abzutun.
    Er stützte sich auf die Theke. »Beichte den Eltern und vergiß das Ganze. Du hast deine Lektion.« Er griff in die Uniform, brachte Münzen zum Vorschein und bestellte, ohne nach Ingas Wunsch zu fragen. Das Lamm mit der Bißwunde fiel ihr ein, die blutende Schnauze; eingehüllt im Gemüsesack lag es unter dem Hügel. Limonade wurde abgestellt, der Leutnant schob sie zu ihr; Inga goß die honiggelbe Flüssigkeit ein, ausdruckslos hingen seine Augen an dem vollen Glas.
    Â»Wie willst du deine Schulden bezahlen?« fragte sie laut und deutlich.
    Er packte ihr Handgelenk, riß sie so heftig fort, daß Inga kaum Zeit fand, das Glas abzustellen. Er zog sie durch das Lokal, unentrinnbarer Griff, sie stieß gegen Uniformen, Schultern – vom Eingang kam ihnen ein Neger entgegen. Hayden zerrte sie weiter, stieß die Tür auf und schob Inga ins Freie.
    Â»Was habe ich denn getan?« fragte sie, um seine Wut zu vergrößern. Sie wünschte sich, daß die Müdigkeit von ihm abfiel, er sich aufrichtete, sie schlug oder anschrie, daß der fahle Mensch außer sich geriet, daß nur das Kleinste geschah! Er ließ sie los,

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