Zwischen den Gezeiten
Fragen.«
»Worüber?« Inga blieb an der Seite der Eltern, sie erreichten das Spalier aus Stühlen und Bänken; es breitete sich über den Rasen aus und endete knapp vor dem Palais. Freitreppe und Terrasse dienten als Bühne, rechts stand ein Flügel, noch zugedeckt.
»Sachen von früher«, antwortete Marianne. Die meisten Plätze waren besetzt, sie fürchtete, zu spät zu kommen.
»Wann früher?« Inga blieb stehen. »Was war mit Frau Seidler?«
Die Mutter zeigte auf zwei leere Stühle in der Mitte, unter Einsatz seiner KörpergröÃe steuerte Erik darauf zu, trat an den äuÃersten Sitz, eine Bewegung ging durch die Reihe, man machte Platz. Beim Hinsetzen versuchte er sich so klein wie möglich zu machen, um denen dahinter die Sicht nicht zu nehmen.
Nun fand von der StraÃenseite ein besonderer Auftritt statt, eine Gruppe von Männern, wenigstens dreiÃig an der Zahl, kam auf die Rampe zu, weiÃes Haar, kahle Köpfe, Brillen und Stöcke; keiner unter ihnen war jünger als sechzig. Lose hingen die Anzüge um gebrechliche Körper, die Rüstigen erstiegen das Podest zuerst und halfen den Ãlteren. Gleichzeitig eine Bewegung aus der Gegenrichtung,
die Doppeltür zur Garage öffnete sich, dort traten die Frauen heraus, Mädchen, Mütter und Matronen; jedes Alter war vertreten â die Gruppen trafen sich in der Mitte.
In den Sitzreihen, unter den Stehenden, bei jenen, die auf Vorsprünge und Mauern gestiegen waren oder auf die unteren Ãste der Bäume: im ganzen Park setzte Applaus ein; überall reckten sie die Köpfe und klatschten. Eine seltsame Freude ergriff Inga, die Zusammengehörigkeit packte sie wie alle rundum, dabei geschah nichts, als daà Frauen und alte Männer aufeinander zugingen. Manche traten in den Hintergrund, andere staffelten sich auf der Treppe, Inga verstand das Muster â erst beide Gruppen zusammen ergaben den Chor. Der Applaus hielt an, auch nachdem die Sänger ihre Plätze gefunden hatten, wurde zum stolzen Ausdruck aller, einer Wiedergeburt beizuwohnen; das normale Leben hatte in Föhrden Einzug genommen, der innere Ausnahmezustand war beendet. An der Hausmauer zusammengedrängt, wirkten die englischen Offiziere als das, was sie waren, eine Randerscheinung.
Der Applaus verklang, Marion Kosigk trat vor den Chor, nach einer bewegten Pause dankte sie den Einwohnern für das zahlreiche Erscheinen und wurde von neuer Ovation unterbrochen. Es folgte eine Danksagung an die Mitwirkenden, die Generalin nannte die Namen der Singverbände, die für das Konzert zusammengefunden hatten, selbst aus entfernten Ortschaften waren sie gekommen. Unter neuerlichem Applaus begrüÃte die Kosigk zwei Herren im Frack, der eine setzte sich an den Flügel, der inzwischen abgedeckt worden war; während er die Noten auflegte, warf er einen Blick zum Himmel. In der Dämmerung war nicht mehr auszumachen, ob sich dort etwas zusammenbraute. Der andere trat vor die Chorvereinigung, die Generalin verlieà die Bühne und nahm ihren Platz in der ersten Reihe ein. Ohne Taktstock hob der Dirigent die Arme, schaute zum Pianisten, letzte Unruhe, als die Sänger die Notenblätter hoben, unter tausend Menschen wurde es still.
Der Mann in der Mitte gab den Einsatz, der erste Ton aus so vielen
Kehlen, lange, unverständliche Silben, Augen auf den Dirigenten gerichtet. Eine Wand aus Klang drang auf Inga ein. Unter den Chorherren kam es zu einer eigentümlichen Verwandlung â ihr Alter schien ausgelöscht. Kein Stock, keine Krücke waren noch nötig, sie waren klingende Wesen, hoch aufgerichtet, nicht mehr die Alten der Stadt, Männer, die der Krieg übriggelassen hatte, Glatzen und falsche Zähne waren vergessen â ihre Stimmen machten neue Männer aus ihnen. Da standen Tenöre im Glanz, kräftige Baritone, würdige Bässe â Inga konnte sich Krieger und Hohepriester vorstellen, Eremiten und Volkstribune. Dazu die Frauen, kräftig und zärtlich; in vielfacher Wiederholung sangen sie, es war geistliche Musik, nicht wie Inga sie kannte, der Mann am Klavier schien ein groÃes Orchester zu simulieren â ein Blick ins Programm ihres Nebenmannes â, Bruckner, las Inga, mehr war im Dunkeln nicht auszumachen. Der Gesang setzte aus, das Umblättern von hundert Seiten, Abwarten des Dirigenten, jetzt ein Stück von
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