Zwischen den Gezeiten
je einer hielt einen Schirm, der andere blätterte die Noten um. Sanctus, sangen sie in allen Höhen und Tiefen, eine Gruppe von Zuhörern scharte sich um den Flügel und überdachte ihn ebenfalls. Einzig der Dirigent stand im Regen, Haar und Schultern glänzten vom Wasser, durchnäÃt hing sein Frack um die Beine. Als spüre er nichts davon, dirigierte er mit groÃen Gesten, rechts und links gewandt, formte er die Lippen zum Sanctus und hielt das Gebäude aus Klang zusammen. Inga trat zum Nächstbesten unter den Regenschirm und war in unverständlichem MaÃe glücklich.
In Schlieren lief das Wasser über die Scheibe, Henning fuhr langsam, rundum strebten Menschen mit Schirmen nach Hause. Trotz des unwirtlichen Wetters hatten sie es nicht eilig, blieben zusammen, so lange sie konnten. Obwohl der Vaterihr seine Jacke geborgt
hatte, fror Inga, zog die Beine an und kuschelte sich neben ihn auf den Rücksitz. Henning verlor kein Wort darüber, daà sie sein Gebot, das Konzert nicht zu besuchen, miÃachtet hatte; schweigend fuhr er, die Scheibenwischer quietschten, sie erreichten das Haus.
»Können wir dich auf etwas einladen?« fragte die Mutter.
»Trude war den ganzen Abend allein.« Henning stellte den Motor nicht ab. »Ich sollte heimfahren.«
»Ein Schlummertrunk.« Marianne legte ihm die Hand auf den Arm.
»Es ist spät«, widersprach er lächelnd.
»Wir würden gerne â« Erik beugte sich vor. »Etwas mit dir bereden.«
Henning sah Inga an, in der Sekunde wurde ihr heiàâ hatte er die Eltern ins Vertrauen gezogen? Sie schob das Sakko von den Schultern. »Ihr macht es ja spannend«, lächelte sie in die Runde.
»Spannend?« In Mariannes Augen lag kein Vorwurf.
Henning sah auf die Uhr. »Eine Viertelstunde wird Trude nichts ausmachen.« Er half der Mutter beim Aussteigen, Erik öffnete die Gartentür. Inga folgte als letzte, in der GewiÃheit, daà ihre Sünden nun zur Sprache kämen. Hatte sie das nicht gewollt, Wiedergutmachung, Wasser über ein schmutziges Fenster kippen  â in diesem Moment gestand sie sich ein, sich im Geflecht aus Geheimnis, Verlockung und Zweifel beängstigend wohl gefühlt zu haben. Gut, daà die Aussprache zwischen allen Beteiligten stattfand â Inga trat über die Schwelle, um so schneller ging sie vorbei.
»Soll Inga dabei sein?« Henning wischte Wassertropfen von der Schulter.
Die Mutter legte die Stola ab. »Inga?« fragte sie überrascht. »Wozu?«
Verblüfft über die Antwort und das mitternächtliche Beisammensein, trat Inga dazwischen. »Ich habe nichts dagegen.«
»Es würde dich nicht interessieren«, widersprach auch Erik.
»Wir kommen vor dem Zubettgehen zu dir«, bestimmte Marianne.
Das Haus war stark abgekühlt; wollte Inga nicht wieder krank werden, muÃte sie aus dem dünnen Kleid heraus. Sie ging zur Treppe, ein letzter Blick, die drei verschwanden im StraÃenzimmer. Sie nahm Stufe um Stufe, das helle Geräusch ihrer Schleppe, von unten war nur noch Gemurmel zu hören.
Sie wusch sich nachlässig, hielt mit der Zahnbürste inne, jedesmal wenn Gesprächsfetzen hochdrangen. Daà die Eltern mit Henning sprachen, muÃte bedeuten, daà sie sich eine gemeinsame Strafe ausdachten, Diebstahl von Geld war kein Kavaliersdelikt; jede Minute vergröÃerte Ingas Angst. Sie lieà das blaue Kleid zu Boden fallen, hob es wieder auf, legte es sorgfältig über den Stuhl, schlüpfte ins Nachthemd, zog eine Jacke darüber und lauschte. Nach einer halben Stunde hörte sie Aufbruchgeräusche, die Stimme des Vaters, ein dreifaches Gutenacht. Inga lief zum Fenster, sah Henning durch den Garten verschwinden, ohne einen Blick nach oben stieg er ein. Der Wagen verschwand um die Ecke, es wurde vollkommen still.
20
I nga hatte die Anforderung des Headquarters lange von einer Schreibtischseite zur anderen geschoben, nun schrieb sie Anfragen an alle Abteilungen und lieà sie vom Sergeant abzeichnen. Am nächsten Tag liefen die Rückmeldungen ein, hundert hellbraune Zettel, nummeriert und in Kürzeln, die Vordrucke waren krakelig ausgefüllt, manchen hatte ein Fingerabdruck aus Schmieröl unleserlich gemacht. Inga spannte doppeltes Blaupapier ein, sortierte die Zettel nach Seriennummern, hinter dem getürmten Papier begann sie die Liste
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