Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Zwischen den Gezeiten

Zwischen den Gezeiten

Titel: Zwischen den Gezeiten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Wallner
Vom Netzwerk:
halben Meter lang, saß gestreckt, wie kurz vor dem Sprung, war braun am ganzen Körper, nur die Wolle am Bauch wirkte heller. Wenn das Licht sie nicht täuschte, hatte der Iltis helle Lippen, dahinter spitze Zähne, ein dunkler Balken lief über die Augen; der Schwanz war so lang wie das halbe Tier. Er sprang los, raste in die Ecken seines Verschlages, die Stöße gegen das Gitter hinderten ihn nicht, weiterzurennen und unaufhörlich zu pfeifen. Der Radau endete in dem Moment, als Inga das Feuer ausschüttelte. Mit dem nächsten, dem übernächsten Streichholz entdeckte sie die Insassen der übrigen Käfige, alle von derselben Rasse, deutlich fielen Inga die hellen Lippen auf. Neben den Exkrementen entdeckte sie Reste von Mäusen und Fröschen in den Gehegen; wer fütterte diese Tiere, wozu hielt man sie an solchem Ort? Inga befand sich im Haus von Marion Kosigk, die der Stadt das wunderbare Konzert bescherte, die aber auch geheime Spielrunden abhielt, zu deren Bekannten britische Offiziere
zählten und ein stadtbekannter Schieber. Die Tiere wurden wohl kaum aus Liebhaberei gehalten, sicher verband sich ein Geschäft damit. Inga wußte nichts über den Wert von Mardern, Wieseln oder Iltissen – was, außer dem Fell, war verkäuflich? Allerdings waren es lediglich vier Exemplare, gerade genug, um aus ihren Pelzen einen Ärmel zu schneidern – Ingas Verdacht lief ins Leere.
    Sie bückte sich vor dem letzten Käfig, das Tier darin war größer, ein Männchen offensichtlich, es hatte ein vollkommen braunes Fell und wachsame Augen. Sie näherte sich mit angehaltenem Atem. Vor dem Riegel hing ein Schloß, man hatte es nicht zuschnappen lassen; vielleicht war es bei der Fütterung vergessen worden. Ingas Hand spielte damit, hob es aus der Verankerung, klopfte mit der Fingerspitze gegen den Draht. Die Pupillen des Tieres folgten jeder Bewegung. Inga entzündete mehrere Streichhölzer gleichzeitig. Sie wollte nur einmal sein Fell berühren, das Herz klopfen spüren, spielerisch tippte sie an den Verschluß, und das Türchen gab nach.
    Â»Keine Angst«, flüsterte Inga und sprach sich selbst Mut damit zu. »Komm nur her, komm, ich tu dir nichts.« Zentimeterweise näherte sie ihre Hand, sein tiefes Raunen, sie streckte die Finger. Da schlüpfte das Tier in die andere Richtung, erreichte den Rand des Gitters, einen Moment gelang es ihr, es festzuhalten – ein Schütteln des Rumpfes, und es war durchgeschlüpft. Inga ließ das Streichholz fallen, griff mit beiden Händen zu, ein Gefühl von Pelz, sie erwischte die Schwanzspitze, von dem erhöhten Absatz sprang das Tier in die Tiefe. Kurz hörte man das Trappeln der Krallen, dann nichts mehr.
    Erschrocken richtete Inga sich auf, gleichzeitig begannen die anderen wieder ihr Zischen und Toben. Sie machte Licht, drehte sich damit im Kreis, es war sinnlos, das Dunkel mit der kleinen Flamme durchdringen zu wollen. Kein Huschen, kein Tappen, nur undurchdringliches Grau, das Tier vollzog seine Flucht in vollkommener Lautlosigkeit.
    Hilfe holen! schoß ihr durch den Kopf. Sie könnte sich vor dem
Spalt in der Wand postieren, bei verschlossenen Türen würde man Licht machen und den Iltis einfangen. Wen aber sollte sie rufen? Die Generalin, damit sie während des Konzertes auf Iltisjagd ging, oder sollte Inga dem Publikum bekanntmachen, daß sie ins Palais eingedrungen war und grundlos Schaden angerichtet hatte? Während sie willenlos neben den Käfigen stand, die Kälte an den nackten Schultern spürte, veränderte sich ihre Sicht des Vorgefallenen allmählich. War sie wirklich die Schuldige, weil ihr der Nager entkommen war, durfte man diese Tiere in dauernder Finsternis halten  – in den engen Käfigen spielten sie verrückt –, war es nicht umgekehrt eine gute Tat, eins von ihnen in Freiheit zu setzen? Inga schloß den Käfig des Flüchtlings, als sei die Ordung damit wiederhergestellt, drehte sich um, entdeckte die geborstene Stelle in der Mauer, lief darauf zu, bückte sich und stand im Freien.
    Lautloser Regen fiel, die Menschen im Park standen oder saßen, überdacht von unzähligen Regenschirmen. Wie ein einziges dunkles Dach breitete es sich über ihnen aus. Inga lief in den Regen, seitlich am Auditorium entlang und staunte zur Bühne empor. Dort hatten sich die Singenden paarweise zusammengetan,

Weitere Kostenlose Bücher