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Zwischen den Gezeiten

Zwischen den Gezeiten

Titel: Zwischen den Gezeiten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Wallner
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machten Marianne noch ratloser – der Teufel war ja nur scheinbar besiegt, jetzt, wo die Deutschen als Bündnispartner gebraucht wurden, erhob der alte Teufel wieder sein schamloses Haupt –, es ging gegen einen neuen, den roten Feind. Zum
wievielten Mal überlegte Marianne, was sie tun konnte, wo selbst ihr Mann, die Tochter, die neuen Regeln in Windeseile erlernten, um wieder mitzuspielen. Der Junge aber, dem sie von ihrer Empörung berichten, dem sie vielleicht beibringen hätte können, es besser zu machen, hatte dem Sturm nicht standgehalten.
    Marianne bemerkte, daß die Angstphantasie zu etwas Körperlichem wurde, die eisige Hand auf dem Laken, das kranke Bein fühlte sich an, als sei es eingeschlafen. Noch einmal zog sie die Decke hoch, verschränkte die Arme darunter; mittags war der Pferdedoktor vor der Tür gestanden, mit einer Tasche voll Geld, womit er den erfolgreichen Verkauf der Madonna belegte. Marianne hatte ihm Feigenkaffee angeboten, er goß sich vom Holunder ein und riet, sämtliche Außenstände bald zu begleichen. Die Tasche lag im Keller unter der Schmutzwäsche, Marianne nahm sich vor, Frau Seidler am nächsten Tag aufzusuchen – nein, Erik sollte es tun; ihnen blieben noch zwei Tage Frist.
    Es fühlte sich an, als ob die Brust unter einem dumpfen Druck begraben würde, die Hand schmerzte, als fasse man in ein offenes Stromkabel. Marianne dachte an Inga, die im Gefängnis saß, und an ihren geliebten Sohn; war es zu Horsts Geburtstag gewesen, daß Erik zuletzt seine berühmte gekochte Mayonnaise angerührt hatte? Marianne wollte ihn ermuntern, es morgen wieder zu tun. Sie erschrak nicht, als ihr Herz in diesem Moment aussetzte, und sie starb, wie sie es einmal vorausgesehen hatte, während draußen ein leichter Sommerregen fiel.

33
    I nga saß auf dem Eckstein vor der Gefängnisbaracke, die Füße auf ein Grasbüschel gestellt, der Regen hatte die Sandwege in schlammige Bahnen verwandelt. Während der MP drinnen telephonierte, überlegte sie, wie sie zur Kommandobaracke gelangen sollte, ohne ihre Sandalen zu ruinieren – eine Delinquentin, die auf dem Weg zum Verhör von Insel zu Insel hüpfte? Sie hob den Kopf, der kühle graue Tag tat wohl, bei der Einfahrt lümmelte der Posten über dem Schlagbaum, dahinter näherte sich jemand dem Lager zu Fuß. Sie schaute über die Schulter, der Militärpolizist sprach in zerfließenden Sätzen, man sah nicht ihn, nur das Telephonkabel, das sich auf dem Boden schlängelte. Der Mann auf der Schotterstraße ging übertrieben aufrecht, als marschiere er in Reih und Glied, auf Pfützen schien er keine Rücksicht zu nehmen – noch drei Schritte, und Inga erkannte ihren Vater. Sein zweiter Besuch in zwei Tagen, der weite Weg aus der Stadt – sie fürchtete Neuigkeiten und die Mühsal, erneut seine Sorgen zu hören.
    Den ganzen Krieg über, auch in der Zeit danach, hatten sie in Einheiten gerechnet – Verpflegung, Gerät, Truppen, Verwundete, Gefangene, Tote –, alles, hatte ihr der Vater erklärt, zählte man so; weil es die Arbeit erleichterte, weil es den Blick freihielt von Anteilnahme. Warum wurde sie nun das Wort nicht los und die Ahnung, was sich dahinter verbarg? Fünfhundert Einheiten in einem Zug, die Lok aus hiesigem Bestand, ihr eigener Vater hatte das Zeichen zur Abfahrt gegeben. Dort kam er, im Gardeschritt, der wehleidige Mensch, schwach und haltlos, dessen Angst sie sich
anhören mußte – Inga beobachtete ihn so voll Abscheu, daß sie den Wagen erst spät bemerkte, der sich vom Ende der Straße näherte. Das Verdeck über die Bügel geschlagen, raste er über Bukkel, Brackwasser sprühte nach allen Seiten. Erik fürchtete um den Anzug, sprang zur Seite, der Wagen bremste, fuhr im Schritttempo weiter und hielt neben dem Vater. Ein Offizier stieg aus, staunend erkannte Inga den Leutnant, die Männer schüttelten einander die Hand. Was gab es zu reden, wieso schlenderten der Brite und der Nazi nebeneinander, ein weiterer Händedruck, während der Balken sich hob. Wie gute Bekannte trennten sie sich, der Leutnant fuhr weiter ins Lager, Erik wandte sich zum Haftblock; er trug den Hochzeitsanzug mit schwarzer Krawatte. Ingas Blick folgte Alec, sie strich das Kleid glatt, fuhr sich durchs Haar – er verschwand zwischen den Föhren.
    Der

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