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Zwischen den Gezeiten

Zwischen den Gezeiten

Titel: Zwischen den Gezeiten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Wallner
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Er beobachtete den aufgelösten Major, dessen massiger Kopf hing über die Brust, bald mußte er die erste Schuldverschreibung ausstellen, kritzelte sie auf das Zwischenblatt der Zigarrenlage. Die andern begriffen die Serie des Leutnants, suchten gegenzusteuern, doch es war zu spät. Er forcierte Tempo und Einsatz, seine Finger beherrschten die Karten, er nützte die Ermattung des Majors, der ein hohes Blatt siegesgewiß aufblätterte – Full House mit Assen.
    Â»Ich weiß nicht, wieviel meine vier Buben wert sind«, lächelte
Alec und drehte die Karten um. »Aber das As scheint mir doch ziemlich hoch zu sein.«
    Ungläubig starrte der Major auf den Poker des Leutnants, der den Schuldschein mitsamt dem Geld der anderen auf seine Seite zog. Rauch hing abgestanden im Zimmer, die Generalin schob dem Leutnant übriggebliebene Karten zu und griff zum Wein. Alec mischte, ohne die Blicke der übrigen zu erwidern.

32
    M arianne faßte in die leere Hälfte des Doppelbettes, wo Erik gelegen hatte, bis sie ihm sagte, sein Schnarchen sei nicht mehr auszuhalten. Sie dachte an ihren Sohn. Obwohl älter als Inga, hatte Horst nie deren Kraft besessen, den Willen übrigzubleiben. Überall im Land regierte der Tod, Menschen auf beiden Seiten waren die Besiegten – bis auf solche, die stehenblieben; trauernd und bevorzugt zugleich, schauten sie auf die vielen, die nie wieder aufstehen würden. Inga hatte das Überleben immer beherrscht – führte sie Situationen nicht regelrecht herbei, in denen das Leben auf Messers Schneide stand? Als in den letzten Kriegswochen – von allen Seiten rückten die Eroberer vor – der dreizehnjährige Nachbarsjunge zur Flak eingezogen werden sollte, brachte Inga ihn nachts aus der Stadt und ins Marschland, wo er sich in einem Heuschober versteckte. Auf dem Rückweg wurde sie von einer Patrouille aufgebracht und beschossen, doch Inga entschlüpfte dem Tod.
    Eine der Offensiven fiel mit der Zeit zusammen, als der Wald voller Pilze stand. Auch wenn Erik das Verbot ausgesprochen, Marianne der Tochter ins Gewissen geredet hatte, stahl sie sich mit ihrem Rucksack zur Gartentür hinaus, füllte ihn bis zur Dämmerung mit Täublingen, Steinpilzen und Bärentatzen und stieß auf dem Heimweg auf einen einzelnen Engländer. Die Waffe in der Hand, hockte er über dem Waldboden und erleichterte sich. Inga schlug einen Haken und rannte; er wollte schießen, verlor aber das Gleichgewicht. Während Erik die Täublinge in Mehl herausbuk,
berichtete Inga lachend von dem kackenden Briten, der in die Baumkronen schoß.
    Horst hatte den Glauben und unbedingte Treue an die Sache besessen, aber keine Entschlossenheit. Er hatte dem Tod nie viel entgegenzusetzen gehabt. Mit den Grenadieren zog er hinaus und fiel in der Winterstellung, gerade als der Frühling begann. Ingas Begeisterung war immer nur so groß gewesen, um unbehelligt zu bleiben, sie heftete ihre Augen stets auf das Kommende und den Vorteil, den sie aus jeder Veränderung zog.
    Inga glaubt, sie hat die Energie von mir geerbt, dachte Marianne und erinnerte sich der fiebrigen Schübe, die sie packten, als sie selbst ein junges Mädchen gewesen war. Man hielt es für alles mögliche, auf Kinderlähmung kamen sie zuletzt. Als das linke Bein verkümmerte, hieß es, Marianne habe noch einmal Glück gehabt. Der strahlende Erik, schönster Mann der Stadt, nahm sie trotzdem, vielleicht sogar, weil ihn das zarte Hinken rührte. Ungeachtet seines Äußeren, war Erik kein Kerl für Frauen und erleichtert, die Richtige so rasch gefunden zu haben. Er schenkte ihr, was in seinem Charakter lag, und war dankbar um ihre Führung. Als Marianne begriff, daß sie ihm und der allgemeinen Stimmung nichts entgegenzusetzen hatte, ließ sie dem politisch Leichtgläubigen sein eitles Vergnügen und bemühte sich, es als Vaterlandsliebe zu beschönigen.
    Niemand, hoffte sie, hatte in den Jahren bemerkt, wie die Verhältnisse an ihrem eigenen Lebensgeist zehrten, es war nicht nur das Bein, als Ganzes hatte Mariannes Kraft nachgelassen. Mit den äußerlichen Entbehrungen war sie, Erik sei Dank, fertig geworden, der Grund, warum Marianne unmerklich weniger wurde, lag in dem Wissen, daß es für etwas Wertloses geschehen war; selbst der Blick in die Zukunft blieb für immer mit der üblen Sache verknüpft. Diese Folgen

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