Zwischen der Sehnsucht des Sommers und der Kälte des Winters
Dass es sich um einen Mann handelte, denn Frauen schrieben nicht so, dass es kein Amerikaner und kein Engländer war, dass er jedoch mehr oder weniger fließend Englisch sprach, es musste ein gebildeter, begabter Mann mit poetischer Veranlagung sein, oder vielleicht eher mit poetischen Ambitionen. Johansson verfügte über ein ausgezeichnetes Gedächtnis, und diese Erinnerung war noch nicht alt, und ohne sich irgendwelche Notizen gemacht zu haben, wusste er noch genau, wie sie sich ausgedrückt hatte.
»Ich habe mein Leben zwischen der Sehnsucht des Sommers und der Kälte des Winters gelebt … … . »Der Schrei der Trottellumme und das Messer am offenen Auge, alles, nur nicht noch einmal diese Einsamkeit.« Vennbergs Gedicht musste um einiges jünger sein, dachte Johansson, aber das war eigentlich uninteressant, denn hier ging es um etwas anderes, um eine poetische Veranlagung, einen poetischen Ehrgeiz, eine Art, etwas zu sehen, zu erleben und sich auszudrücken, und einen Lieblingsdichter suchte man sich nicht einfach so aus.
Der Ministerpräsident, dachte Johansson. Das hatte er bereits begriffen, und diese Überzeugung war so stark, dass sie keinerlei Raum für Alternativen bot. Der Ministerpräsident war Pilgrim, oder genauer gesagt … war es vor dreißig Jahren gewesen.
Und wer war Fionn?, überlegte Johansson. An wen hatte Pilgrim geschrieben? Leicht wie ein Blatt im Wind, dachte Johansson, denn all das hatte er sich schon ausgerechnet, und als er den aktuellen Band des Schwedischen Konversationslexikons aus dem Regal wuchtete, wollte er die Bestätigung eigentlich nur noch gedruckt sehen. Finn, dachte er. Fionn ist sicher Englisch für Finn.
»Finn, anglisierte Form des gälischen Namens Fionn, Held aus der mittelalterlichen irischen Sagaliteratur, vergleiche auch Ossian und Fenian Lays«, las Johansson.
John C. Buchanan, Krassners Onkel, dachte er, der im Frühjahr 1955, als der Kalte Krieg am kältesten war, als CIA-Agent in Europa und Schweden sicher alle Hände voll zu tun gehabt hatte. Wie hatte Sarah ihn noch beschrieben? Als gerissenen, verlogenen, versoffenen und natürlich vorurteilsvollen Iren. Aber das kann ja nicht alles gewesen sein, dachte Johansson, denn er hatte damals wahrlich keinen schlechten Agenten rekrutiert.
Das ist die einzige überzeugende Erklärung, dachte er, denn es war zwar ein Abschiedsbrief, aber der bezog sich wohl kaum auf einen Abschied vom Leben. Hier hatte einfach ein ehemaliger externer Mitarbeiter der viertgrößten Sicherheitsorganisation der Welt auf eine gebildete, begabte und im Hinblick auf diese Zusammenarbeit ungewöhnlich poetische Art und Weise mitgeteilt, dass er nicht mehr mitspielen wollte. Ein noch junger Mann, der für sein weiteres Leben andere Pläne hatte.
Was geht mich das eigentlich an?, dachte Johansson gereizt und suchte nach seinem Glas, das er offenbar im Badezimmer vergessen hatte. Rein gar nichts, denn ganz abgesehen davon, was Pilgrim und Fionn dreißig Jahre zuvor getrieben haben mochten, so war es über fünf Jahre her, dass jemand wie Johansson auch nur den kleinen Finger gerührt hätte. Verjährungszeiten sind keine schlechte Erfindung, sagte sich Johansson. Sie ersparen einem unnötige Arbeit. Was sollte er jetzt also machen? Für einen Polizisten wie ihn gab es eigentlich nur noch ein Problem, und das war Krassner selbst. Was hatte Sarah noch gesagt? Dass er lieber gestorben wäre, als sich das Leben zu nehmen, und vermutlich hatte sie auch damit Recht gehabt. Also musste er jetzt nur noch feststellen, was wirklich passiert war.
Natürlich hatten die Kollegen von der Säpo sich die ganze Zeit für Krassner interessiert, und M’Boye hatte bestimmt nur zufällig als Garderobenständer für Krassners Mantel gedient. Nicht einmal die Sicherheitspolizei war dumm genug, um nicht zu begreifen, dass die Tage des weißen Regimes in Südafrika gezählt waren und dass M’Boye so gesehen recht bald der neuen Regierung angehören könnte. Die Gewerkschaft hatte das offenbar begriffen, denn warum hätten sie ihn sonst eingeladen? Vermutlich hatte die Säpo nicht einen einzigen Gedanken an ihn verschwendet.
Regel Nummer eins, dachte Johansson und ließ sich auf seinem Schreibtischstuhl zurücksinken. Sich mit der Situation abfinden! Aber in seinen über zwanzig Jahren bei der Polizei konnte er sich an keine Situation erinnern, die ihm so zutiefst zuwider gewesen war wie die, in der er sich gerade befand.
Regel Nummer zwei, dachte
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