Zwischen der Sehnsucht des Sommers und der Kälte des Winters
immerhin etwas vorstellen. »Wieso denn?«
»Ja, verdammt«, sagte der große Bruder und zuckte viel sagend mit seinen breiten Schultern. »Dann kannst du die pure Hölle mit deiner Prostatit kriegen.«
»Prostatit«, wiederholte Lars Martin verwirrt.
»Ja, du weißt schon, der alte Onkel Einar. Den mussten sie doch mitten in der Nacht ins Lazarett schaffen und ihm ein ganzes Katheter in den Schwanz rammen, damit er endlich mal wieder pissen konnte.«
Ein ganzes Katheder, dachte Lars Martin, der seit fast zwei Schuljahren hinter einem solchen saß, und der alte Onkel war zwar ein kräftiger Kerl, aber das konnte doch einfach nicht möglich sein.
»Ein Katheder?«
»So ein Krankenhauskatheter«, erklärte der Bruder mit schicksalsschwangerer Stimme. »Ich hab das von Bergqvist gehört, als ich mit ihm auf der Jagd war. Überleg doch nur. Ein Katheter, ich meine, oh Scheiße …« Der Bruder schüttelte resigniert den Kopf.
Bergqvist war der hochgradig versoffene und allgemein verehrte Landarzt der Gegend, und der große Bruder diente ihm als Jagdbursche, weshalb an diesem Gewährsmann wohl kaum etwas auszusetzen war. Aber ein Katheder? Natürlich nur ein Krankenhauskatheder, aber so viel kleiner konnte das doch auch nicht sein? Dr. Bergqvist war doch doppelt so groß wie die Lehrerin in der Schule.
»Also geb ich dir den guten Rat, wenn du kein Frauenzimmer in der Nähe hast, dann ist Wichsen angesagt. Und zwar mindestens zwei-, dreimal pro Tag, sonst kann es glatt zum Teufel gehen«, fasste der große Bruder die Lage zusammen.
*
Das also ist das Mekka der westlichen Polizeiwelt, und ich bin als Pilger aus dem Hohen Norden hierher gewallfahrtet, dachte Johansson in allerbester Stimmung, als er nach dem Frühstück seinen kurzen Morgenspaziergang antrat. Aber es gab kein Minarett und keinen Muezzin, denn dieses Mekka lag nur knapp hundert Kilometer südlich von Washington D. C., an der Mündung des Potomac, diskret eingebettet in Virginias sanfte, bewaldete Hügel.
Im Mittelpunkt der Anlage befanden sich etwa zwei Dutzend Häuser aus Klinker und verputztem Stein – gehalten in einer Art Nachkriegsbauhausstil die auf Bodenebene mit einem Netzwerk aus verglasten Gängen verbunden waren. Hier gab es Büros, Laboranlagen, Trainingsräume, Schwimmbecken und Bibliothek, Klassenzimmer, Hörsäle und ein Kino. Es gab Restaurant, Cafeteria und drei große Gästehäuser mit einigen Hundert Einzelzimmern für die Dozenten, Studierenden und sonstigen Gäste, die die Akademie besuchten oder dort vorübergehend arbeiteten.
Das erinnert doch wirklich an eine kleinere Universität in den USA, dachte Johansson, der zwar keine je besucht hatte, aber eine klare und im Grunde ganz richtige Vorstellung davon hatte, wie eine moderne kleine Universität in den USA eben aussieht. Typischer Campusstil, entschied Johansson fachmännisch. Aber darüber hinaus gab es keine Ähnlichkeiten, jedenfalls nicht mit einer modernen kleinen Universität in den USA.
Einige Kilometer von dieser Anlage entfernt befand sich eine US- typische Kleinstadt, Hogan’s Alley, mit Gerichtsgebäude, Kirche, Schule, Postamt, Bank, Läden, Theater, Kasino, die alle die eine Gemeinsamkeit aufwiesen, dass sie nicht echt waren. Hier wurden die polizeilichen Künste trainiert und vervollkommnet, mit Hilfe von dazu engagierten Schauspielern, die Mörder, Bankräuber, Drogendealer, Diebe, Betrüger und Falschspieler darstellten. Ein Disneyland für alle, die Räuber und Gendarm spielen wollen, dachte Johansson und steuerte die Umgebung mit ihren sanften, bewaldeten Hügeln an.
Aber dort gab es nur Trimmpfade, Schießstände und Strecken für Hürdenläufer. Für schnelle Promenaden unter freiem Himmel war dieses Terrain jedenfalls nicht gedacht. Das verrieten ihm der lehmige und zertrampelte Boden und die glasigen Blicke der erschöpften Läufer. Scheiße, dachte Johansson, die rennen ja nicht mal mehr, die versuchen sich umzubringen. Das hier ist keine Universität mit Dozenten und Studierenden, dachte er. Das hier ist ein Heerlager für einen Ritterorden mit Schloss und Befestigungsanlagen und Turnierplatz und Fechtböden, auf denen man sich für einen neuen Kreuzzug rüstet.
Als er von seinem Morgenspaziergang zurückkehrte, war seine gute Laune verflogen, seine Schuhe waren verdreckt, und er ging wieder auf sein Zimmer und legte sich aufs Bett, um zu lesen. Und dann war er wohl eingeschlafen, denn als er die Augen aufschlug, wurde es draußen
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