Zwischen der Sehnsucht des Sommers und der Kälte des Winters
folgen sollte?, überlegte Johansson. Oder sollte ich lieber einen kurzen Spaziergang machen? Das Problem war nur, dass es erst in drei Stunden dämmern würde und dass im Bereich der Akademie strengste Sicherheitsvorkehrungen galten. Hoher schwedischer Polizist beim Morgenspaziergang vom FBJ erschossen, dachte Johansson und grinste, als er sich die Schlagzeilen vorstellte. An Frühstück war auch nicht zu denken, denn die Mensa öffnete erst um sieben Uhr, und ohnehin will ja wohl kein vernünftiger Mensch um ein Uhr morgens frühstücken … Außerdem hatte er ein Zimmer mit Dusche, anders als seine Kollegen, die nicht so fein waren wie er und die Dusche mit ihren Flurnachbarn teilen mussten.
Johansson hatte geduscht und dann den Rat des großen Bruders befolgt, während er an eine Frau dachte, mit der er einmal gesprochen hatte und die sich jetzt an die tausend Kilometer in nordöstlicher Richtung von ihm entfernt aufhielt. Was sie jetzt wohl macht?, dachte Johansson. Denn sie sitzt ja sonntags wohl kaum in ihrem Postamt. Danach war er wieder ins Bett gegangen und hatte einen englischen Roman zu Ende gelesen, den er sich als Reiselektüre gekauft hatte, und als die Mensa dann endlich öffnete, stand er als einer der ersten vor der Essensausgabe. Mein großer Bruder hat Recht gehabt, dachte er, als er Rührei mit gebratenem Schinken und Graubrot verzehrte. Auch dem Appetit schadet es nicht, wenn man wartet.
Als Johansson noch klein gewesen war, hatte sein zehn Jahre älterer Bruder die wichtigen Teile seiner Erziehung übernommen. Sie waren sieben Geschwister, Johansson war der zweitjüngste, und die Eltern mussten sich außerdem um einen großen Hof kümmern, weshalb sie meistens anderweitig beschäftigt waren und nicht mit dem kleinen Lars Martin. Es war insofern keine konventionelle Erziehung gewesen, und sicher wäre ein Kinderpsychologe vor Entsetzen erstarrt, aber Johansson hatte sich nie beklagen müssen. Sein ältester Bruder war immer gut zu ihm gewesen. Er war der Erste, der ihn nicht mehr Brüderchen nannte, er hatte ihm mit fünf Jahren das Schwimmen beigebracht, war bald darauf mit ihm auf die Jagd gegangen und hatte die anderen Brüder in regelmäßigen Abständen verdroschen, wenn sie gemein zu dem Kleinen gewesen waren. Außerdem hatte er ihn als Erster in die Mysterien des Erwachsenenlebens eingeweiht.
Als Lars Martin sieben Jahre alt war, hatte sein Bruder ihm in einem vertraulichen Moment seine Pornozeitschriften gezeigt. Fette weiße Tanten mit Riesenbusen, die nicht mehr Haare zwischen den Beinen hatten als Lars Martin. Aber das war sicher irgendein Pfusch, hatte er gedacht, erfahrener Saunagänger, der er war.
»Mit dem Lesen kannst du warten, bis du Haare am Pimmel hast«, erklärte der große Bruder. »Das merkst du dann übrigens selbst. Ja, wenn die Leselust kommt, meine ich«, fügte er vage hinzu.
Lars Martin hatte einfach nur genickt. Was hätte er auch sagen sollen?
»Ja, verdammt«, sagte sein großer Bruder mit aller wünschenswerten Klarheit. »Ich nehme die zum Wichsen. Das macht die Sache leichter«, sagte der große Bruder und nickte. Eher an sich selbst gerichtet, wie es aussah.
Zum Wichsen, dachte Lars Martin, stellte aber keine Fragen.
»Ja, verdammt«, sagte der große Bruder. »Hier gibt’s ja keine Frauenzimmer. Das ist ganz anders als in Kramfors.«
Seit drei Monaten arbeitete der große Bruder als Forstgehilfe bei der SCA unten in Kramfors, und jetzt war er nicht nur zehn Jahre älter, er war noch dazu weitgereist.
Was redet der da nur, fragte sich Lars Martin verwirrt, keine Frauenzimmer? Hier wimmelt es doch nur so von Frauenzimmern, Mama Elna und die Schwestern und Oma und die Tanten. Und die Nachbarin Frau Nordlund, und von der Nordlundschen konnte man halten, was man wollte, aber sie war sogar noch fetter als die Frauenzimmer in den Zeitschriften, die er eben gesehen hatte. Und danach war alles noch kurioser geworden. Sein großer Bruder hatte ihm mit ernster Miene zugenickt und war ihm durch die Haare gefahren.
»Daran kannst du denken, wenn es so weit ist«, sagte er. »Scheiß aufs Wichsen, wenn Frauenzimmer vorhanden sind, aber ansonsten solltest du dir so zwei-, dreimal am Tag einen runterholen.«
Kramfors, Frauenzimmer, wichsen, runterholen, dachte der kleine Lars. Wovon redet der da nur?
»Denn sonst kann es glatt zum Teufel gehen.« Der Bruder nickte in tiefem Ernst.
»Zum Teufel«, wiederholte Lars Martin fragend, denn darunter konnte er sich
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