Zwischen der Sehnsucht des Sommers und der Kälte des Winters
hohlen Absatz war einfach zu viel. Das sollte noch längst nicht heißen, dass es so klug war, sie anzurufen. Rein professionell betrachtet empfahl es sich fast immer, unangemeldet aufzutauchen und ganz einfach an die Tür der betreffenden Person zu klopfen. Oder auf das Klopfen zu pfeifen, wenn es denn ernst war. Aber hier ist das nicht so, dachte Johansson, also was mache ich?
Mit Hilfe einer freundlichen Rezeptionistin in seinem Hotel hatte er am Vortag gewisse vorbereitende Maßnahmen getroffen. Zuerst hatte er die Telefonnummer, die er von Wiklander erhalten hatte, noch einmal überprüft. Nicht, dass er kein Vertrauen zu Wiklander gehabt hätte. Wiklander war ein fast ebenso tüchtiger Polizist, wie er selbst in diesem Alter gewesen war, aber Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser, dachte Johansson. Weissmans Telefonnummer stand im Telefonbuch, es war also einfach genug gewesen, das zu überprüfen, und da die Adresse mit der in seinem Notizbuch übereinstimmte, war es sicher die Richtige: Sarah J. Weissman, 222 Aiken Avenue, Rensseelaer, New York State.
Außerdem hatte er in Erfahrung gebracht, dass Rensseelaer sozusagen Wand an Wand mit Albany lag, was offenbar die Hauptstadt des Staates New York war. Wie Solna und Sundbyberg in Bezug auf Stockholm, dachte Johansson.
»Wie kommt man am leichtesten dorthin?«, fragte Johansson.
»Mit dem Zug von der Grand Central Station«, erklärte die Rezeptionistin. »Dauert mit dem Expresszug knapp drei Stunden. Ich kann einen Fahrplan besorgen, aber die gehen auch am Wochenende ziemlich oft. Außerdem ist die Fahrt am Hudson entlang wirklich schön«, fügte sie mit einem Lächeln hinzu. »Ganz anders als hier«, sagte sie dann noch und nickte zur Straße hinter der Drehtür hinüber.
Ob das wohl ebenso schön ist wie am Ängermanälv?, überlegte Johansson.
Ich kann den Zug am Sonntagmorgen nehmen, beschloss Johansson daraufhin. Mich ein bisschen umsehen, feststellen, wo er gewohnt hat, vielleicht ein paar Worte mit seiner Verflossenen wechseln, wo ich schon mal da bin. Es wäre natürlich praktischer, sie vorher anzurufen. Nichts sprach dafür, dass sie eine schnöde Verbrecherin war, die die Beine in die Hand nahm, sowie ein schwedischer Polizist an ihrer Tür klingelte, um sich mit ihr über einen Ex zu unterhalten. Oder vielleicht doch, überlegte Johansson und seufzte. Egal, dachte er dann und wählte ihre Nummer.
Nachdem es ein halbes Dutzend Mal geklingelt hatte, schaltete sich der Anrufbeantworter ein. Sie hörte sich munter und fröhlich an.
»Hallo«, sagte sie beschwingt. »Hier ist Sarah, und ich bin nicht zu Hause. Hinterlass doch einfach eine Nachricht.«
Ach was, dachte Johansson enttäuscht und legte auf.
Am Nachmittag hatten Johansson und seine beiden Reisekameraden sich zuerst das Polizeigebäude im südlichen Teil von Manhattan angesehen. Es wirkte wie die meisten anderen Polizeigebäude, die Johansson besucht hatte, wenn man von seiner Größe absah. Danach waren die hiesigen Kollegen mit ihnen in ein nahe gelegenes Restaurant gegangen, wo es gutes und nahrhaftes Essen zu einem Rabattpreis gab. Für Polizisten natürlich nur.
»Never kick an ass on an empty stomach«, sagte ihr Gastgeber und lächelte sie strahlend an. Detective Lieutenant Martin Flannigan, dachte Johansson, und etwas rührte an sein Herz. Genauso gut könntest du Bo Jarnebring heißen und als stellvertretender Chef für die lokale Kripo von Östermalm fungieren. Und den passenden Vornamen hast du auch.
Lieutenant Flannigan und seine Kollegen wollten sie bei einem Sondereinsatz gegen Straßenüberfälle in Manhattan bei sich haben. Straßenüberfälle wurden hier ernst genommen, vor allem zu Weihnachten und zumindest in bestimmten Gegenden in Manhattan. »It’s a decoy operation«, erklärte Flannigan. »Funktioniert bei den ganz blöden Gaunern hervorragend.«
Decoy, dachte Johansson. Lockvogel. Wie er selbst in seiner Jugend unten am Fluss Enten angelockt hatte. Zuerst hatte er die von seinem Großvater geerbten Lockvögel ausgesetzt, dann war er mit dem Kanu hingepaddelt, hatte sich im Schilf versteckt und auf die Dämmerung gewartet, in der die Enten zum Leben erwachten. Eines Abends hatte er mehr geschossen, als er auf einmal tragen konnte. Wie alt ich damals wohl war?, überlegte Johansson.
Sowie es dunkel geworden war und die Gauner aus ihren Löchern lugten, suchten sie eine passende Seitenstraße auf. Einer von Flannigans Leuten hatte sich als Penner
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