Zwischen Ehre und Verlangen
dass Mr. Brownsmith sich möglicherweise täuschte und sich in Holkham kein Hinweis auf seine Identität ergab. Oder er erfuhr, wer er war und weshalb er sich hier aufhielt, und erinnerte sich sogleich, dass er irgendwie gebunden war. Vielleicht änderte sich dann seine Einstellung zu ihr grundlegend. Amanda war sich bewusst, dass er sie begehrte, fragte sich indes, ob er sie von Herzen liebte. Möglicherweise hütete er sich davor, ihr seine innigen Gefühle zu gestehen, weil er befürchtete, dass er nicht für sie frei war.
Niedergeschlagen hielt sie sich vor, dass ihre Beziehung zu ihm wahrscheinlich ein für sie unglückliches Ende nehmen werde. Und der Gedanke, dass er zufrieden zu seiner Gattin oder Verlobten zurückkehren würde, stimmte sie keineswegs fröhlicher.
Plötzlich vernahm sie Schritte, schaute auf und sah Jane auf sie zukommen.
Jane blieb vor der kurzen Freitreppe stehen und erkundigte sich rücksichtsvoll: “Möchtest du allein sein, Amanda? Nanu, warum machst du ein so betrübtes Gesicht? Ist etwas Unangenehmes vorgefallen?”
“Ja”, antwortete Amanda. “Komm herauf, und setz dich zu mir.” Sie wartete, bis ihre Gesellschafterin sich neben ihr niedergelassen hatte, und fuhr dann fort: “Es ist besser, wenn ich dir die Geschichte hier berichte, damit nicht zufällig ein Dienstbote mich hört.”
Sie erzählte, was sich in Kelling House zugetragen hatte, und hielt dann der Freundin ihr immer noch gerötetes Handgelenk hin. “Sieh dir das an, Jane!”, fügte sie empört hinzu. “Man sollte es nicht für möglich halten, dass Humphrey sich derart vergessen konnte!”
“Schade, dass kein Mann da ist, der ihn dafür zur Rechenschaft ziehen kann!”, äußerte Jane ärgerlich.
“Ich habe soeben einige Minuten damit verbracht, Mr. Brownsmith zu bewegen, Humphrey nicht zu verprügeln. Nach einigem Hin und Her hat er mir das schließlich versprochen. Ich bin ihm zufällig am Wehr begegnet und habe ihm, weil er gemerkt hat, wie echauffiert ich war, dummerweise den Grund für meine Aufregung genannt.”
“Ich bin nicht so sicher, ob er seine Zusage einhalten wird”, murmelte Jane skeptisch. “Ich wäre nicht überrascht, wenn er auf dem kürzesten Weg zu Mr. Clare gegangen ist und ihm zumindest gehörig die Meinung gesagt hat.”
“Ich habe ihm zu verstehen gegeben, dass ich nicht in einen peinlichen Skandal verwickelt werden will”, erwiderte Amanda ernst. “Also verlasse ich mich auf ihn. Nun stehe ich jedoch vor der Frage, wie ich mich verhalten soll, wenn Humphrey oder seine Mutter mich erneut einladen. Ich kann nicht gut absagen, denn das würde bestimmt Befremden auslösen. Und wenn er mir die Aufwartung macht, muss ich unbedingt darauf achten, jemanden bei mir zu haben. Mir graust es davor, ihm wieder zu begegnen.”
“In Zukunft werde ich dich stets begleiten”, sagte Jane entschlossen, “und mit dir im selben Raum sein, wenn er dich hier aufsucht. Und wenn wir ihm allein oder in Gesellschaft seiner Mutter irgendwo in der Öffentlichkeit über den Weg laufen, dann sind wir höflich, aber nicht zuvorkommend.”
“Das wird ein untragbarer Zustand werden”, meinte Amanda bedrückt. “Ich kann Humphrey und seine Mutter zwar nicht ausstehen, doch es widerstrebt mir, zu jemandem ein gespanntes Verhältnis zu haben.”
“Vielleicht ist es nicht von langer Dauer”, meinte Jane.
“Wie soll ich das verstehen?” fragte Amanda erstaunt.
“Nun, es könnte doch sein, dass Mr. Clare mit seiner Mutter verreist, zu Verwandten oder nach London, oder du fährst in die Stadt.”
“Dafür sehe ich keinen Anlass”, erwiderte Amanda verblüfft. “Oh, ehe ich es vergesse! Gestern Abend hat Mr. Brownsmith bei Humphrey einen anderen Gast über die Schafschur reden gehört und den Eindruck gewonnen, mit dem Ausdruck ‘Coke’s Clippings’ vertraut zu sein.”
“Wie merkwürdig. Ist er sich dessen sicher?”
“Ja”, bestätigte Amanda. “Er meint, wenn er an diesem Ereignis teilnimmt, dass er dann einen Hinweis darauf bekommt, wer er ist und weshalb er sich hier befindet. Daher habe ich ihn gebeten, mich am kommenden Mittwoch nach Holkham zu begleiten.”
Belustigt schaute Jane die Freundin an, enthielt sich jedoch eines Kommentars.
Seit Tagen hatte Amanda nichts mehr von Humphrey oder Mr. Brownsmith gehört, lediglich zufällig im Stall von Flambough erfahren, Mr. Breams Buchhalter sei oft auf dem jungen Hengst gesehen worden, den er wunderbar zu bändigen
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