Zwischen Ehre und Verlangen
verstehe.
Nach dem sonntäglichen Kirchgang bemerkte Amanda verstimmt, dass Humphreys Mutter, die bereits in ihrer Kutsche Platz genommen hatte, sie zu sich winkte. Widerstrebend ging sie zu ihr und sagte höflich: “Was hast du auf dem Herzen, Irene?”
“Das werde ich dir gleich sagen”, antwortete Irene kühl. “Entfernen Sie sich ein Stück vom Wagen, Wilkins!”, befahl sie dem Kutscher, wartete, bis er die Anweisung ausgeführt hatte, und beorderte dann Amanda zu sich.
Mit sehr gemischten Gefühlen nahm Amanda auf dem freien Sitz Platz.
“Was hast du dir dabei gedacht, Amanda, derart mit den Gefühlen meines Sohnes zu spielen?” zischte Irene ihr zu.
“Wie bitte? Was meinst du damit? Er hat mir einen Heiratsantrag gemacht, den ich abgelehnt habe, weil ich nichts für ihn empfinde. Es wäre nicht in Ordnung gewesen, einen anderen Eindruck bei ihm zu erwecken.”
“Deine Antwort befremdet mich sehr, Amanda!”, erwiderte Irene spitz. “Schließlich hast du ihn monatelang ermutigt!”
“Ermutigt?” wiederholte Amanda überrascht. “Ich habe nichts Dergleichen getan! Ich war höflich zu ihm, wie sich das gehört, denn schließlich ist er Fredericks Verwandter.”
Irene verengte die Augen und äußerte misstrauisch: “Irgendetwas muss dich anderen Sinns gemacht haben. Wahrscheinlich glaubst du, eine bessere Partie machen zu können, und strafst deshalb meinen lieben Sohn mit Missachtung! Nun, zumindest sind ihm jetzt über dich die Augen geöffnet worden. Unser aller gutem Ruf zuliebe hoffe ich, dass du weißt, was du tust, damit wir nicht plötzlich in einen schrecklichen Skandal geraten! Auf Wiedersehen, Amanda!”
Amanda war so aufgebracht, dass sie Humphreys Mutter nur einen erbosten Blick zuwarf, aufstand und den Wagen verließ, ehe der Kutscher ihr den Schlag öffnen konnte. Auf dem Weg zu ihrem Landauer grübelte sie darüber nach, ob sie und Mr. Brownsmith während des Aufenthaltes in Kelling House beobachtet worden waren. Hatte Humphreys Mutter gemerkt, dass sie sich zueinander hingezogen fühlten, und würde sie nun anfangen, Gerüchte über sie in die Welt zu setzen? Vielleicht wurde sie jetzt tatsächlich zu einer lebenslustigen Witwe abgestempelt und von allen Nachbarn, auf deren gute Meinung sie großen Wert legte, gesellschaftlich gemieden.
Es fiel Amanda schwer, den Ärger zu unterdrücken, sodass es sie nicht erstaunte, als Jane nach der Ankunft daheim unvermittelt fragte, was zwischen ihr und Humphreys Mutter vorgefallen sei. “Sie hat mir Vorwürfe gemacht, weil ich den Heiratsantrag ihres Sohnes zurückgewiesen habe”, erklärte sie erbost. “Und dann hat sie sich zu der Behauptung verstiegen, ich hätte ihn ermutigt. So ein Unsinn!”
“Sie muss nicht ganz bei Trost sein”, meinte Jane kopfschüttelnd. “Allerdings kann ich ihre Enttäuschung nachvollziehen, da sie sehr ehrgeizig ist und es sicher gern gesehen hätte, wenn dein Besitz und der deines angeheirateten Vetters vereint würden.”
Am Montag erhielt Amanda ein Billett von Mr. Brownsmith, öffnete es mit dem Federmesser und zog die Büttenkarte heraus. “
Sehr verehrte Mrs. Clare”
, las sie, “
ich weiß jetzt, wo wir uns am Mittwoch treffen werden, und werde pünktlich dort sein. Aber verzichten Sie bitte darauf, Ihren Sattel mitzubringen. Ich werde Ihnen ganz gewiss nicht erlauben, Mr. Breams jungen Hengst zu reiten. Mit den besten Empfehlungen, J.”
Jane sah Amanda lächeln und war zufrieden. Doch dann fiel ihr ein, dass noch sehr viel nicht nach Plan verlaufen könnte.
Am Mittwoch herrschte emsige Betriebsamkeit. Die kleine Kutsche wurde mit allem beladen, was für den Aufenthalt in Holkham erforderlich war. Amanda hatte sogar daran gedacht, Garderobe zum Wechseln mitzunehmen, falls sie und Jane von Mr. Coke zum Essen nach Holkham Hall eingeladen wurden. Als man abfahrbereit war, stieg Flambough auf den Dienertritt, und Amanda trieb das Gespann an.
“Du meine Güte!”, sagte Jane bestürzt und hielt sich erschrocken an der Seitenverkleidung des Wagens fest. “Musst du die Pferde so schnell laufen lassen?”
“Sie haben tagelang im Stall gestanden und müssen sich bewegen”, antwortete Amanda schmunzelnd.
“Dich sticht wohl der Hafer?” fragte Jane kopfschüttelnd. “Du wirst dich sehr konzentrieren müssen, wenn du weiterhin so wagemutig kutschierst, und dann bist du in Holkham restlos erschöpft.”
“Mr. Brownsmith ist der Ansicht, ich sei nicht imstande, mit einem
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