Zwischen Ewig und Jetzt
beginnt das Auto an seiner Schnur zu schaukeln, so stark, dass mir übel davon wird. Und noch bevor ich es verhindern, irgendetwas dagegen tun könnte, sehe ich ein Gesicht an der Fensterscheibe, ein Gesicht von etwas, das einmal mein Vater gewesen sein könnte und das vor langer, langer Zeit gestorben ist. Ich schreie, ich glaube, ich schreie, und dann hört es auf.
Das Nächste, was ich fühle, ist die Nässe. Ich knie. Als mein Blick sich wieder scharf stellt, knie ich auf allen Vieren in einer Pfütze. Niki ist neben mir, hat seine Hand auf meiner Schulter.
»Julia. Das wollte ich nicht«, sagt er. Er klingt furchtbar. Furchtbar allein.
Aber ich kann meinen Kopf nicht heben und ihn ansehen, weil ich in diese Pfütze blicke und nur mich selbst sehe, und das ist alles, was ich im Augenblick will.
»Julia«, höre ich jetzt auch Felix’ Stimme. Und sehe seinen Schatten neben Niki auftauchen.
Nikis Hand verschwindet. »Lass sie in Ruhe.«
Dann Felix wieder: »Dasselbe wollte ich dir auch gerade sagen.«
»Du hast mir gar nichts zu befehlen.«
»Sie hat Angst vor dir: Siehst du das nicht?«
Angst? Habe ich Angst vor ihm? Ich spüre schon wieder das Wattegefühl. »Nicht«, sage ich. »Hört auf.« Mühsam komme ich auf die Beine. Sehe mich um. Konrad ist noch da, ebenso Anni und Vanessa, die sich umarmen: Die anderen sind verschwunden. Vanessa schluchzt. Konrad sieht bleich zu uns herüber. Ich wende mich an Niki und Felix, die mich beobachten. »Ich muss jetzt los«, sage ich kindisch. »Nach Hause. Allein.« Ich wage es nicht, Niki in die Augen zu sehen.
»Julia«, sagt er, doch ich hebe abwehrend eine Hand.
»Nicht jetzt, ja? Ich kann nicht.« Dann schnappe ich mir meine Tasche, mir ist immer noch schwindlig, und stakse so gefasst wie möglich zur Straße.
Tot, tot, tot, sage ich mir bei jedem Schritt. Das war nur meine Phantasie. Mein Vater ist mit seinem Wagen verunglückt. Er war auf der Stelle tot. Und das ist jetzt mein Trost.
Ob ich Angst vor Niki habe? Was für eine Frage!
Mein Kopf tut mir weh, die Jeans klebt mir ungemütlich an den Knien. Ich konzentriere mich mit aller Macht darauf, nicht an das zu denken, was eben passiert ist. Nicht an das Ding im Auto, nicht an Bäche oder Regen, nicht an Niki. Nein, an ihn auch nicht. Nicht jetzt.
Wahrscheinlich kriege ich deswegen erst gar nicht mit, dass ich verfolgt werde. Als ich Schritte hinter mir höre und mich umdrehe, ist es schon zu spät. Doch es ist nicht etwa Justin, der mich verfolgt, es ist …
»Felix?« Ich bleibe stehen.
Er hebt beide Hände. »Nicht erschrecken.«
»Was machst du denn hier?«
»Wollte klarstellen, dass du auch sicher nach Hause kommst. Du sahst eben ganz schön mitgenommen aus.«
Ich nicke, drehe mich langsam um, während die Gedanken in meinem Kopf wirbeln. »Spürst du das denn nicht? Siehst du denn nichts in diesen Augenblicken?«
»Nicht wirklich. Da ist nur dieses Gefühl … dieses Dementorengefühl. Aber dieses Mal war es fast übermächtig.«
Wir gehen die paar Meter schweigend weiter bis zu unserem Haus. Umständlich krame ich den Schlüssel aus meiner Tasche. Der mir prompt runterfällt. Felix und ich bücken uns beide danach, um ihn aufzuheben. Felix ist schneller.
»Danke«, sage ich und versuche mit zitternden Händen, das Ding auch ins Schloss zu kriegen und die Tür aufzusperren.
»Warte. Ich helfe dir.« Felix legt seine Hand um meine, drückt sie leicht und dreht mit mir zusammen den Schlüssel herum.
Er steht so dicht bei mir, dass ich sein Aftershave riechen kann. »Danke«, sage ich schon wieder.
Felix hält mir die Tür auf.
»Willst du … willst du noch mit hochkommen? Ich kann uns einen Kaffee machen, wenn du magst.«
Felix nickt bloß.
Da der Fahrstuhl mal wieder nicht funktioniert, müssen wir die Treppe nehmen. Wir reden kein Wort. Auch nicht auf unserem Flur. Erst als ich uns aufgeschlossen habe, die Jacken weggehängt und ihm voran in die Küche gehe, zieht er hörbar Luft durch die Zähne ein.
»Wow. Was ist denn hier passiert?« Er steht auf der Schwelle zum Wohnzimmer.
»Das sind die Papiere von Opa«, erkläre ich, während ich Filterpapier herausnehme. »Sieht schlimmer aus, als es ist: Den größten Teil habe ich schon weggeräumt.«
Obwohl meine Mutter das gestern nicht so gesehen hat. Sie konnte kaum ihr Bett ausziehen, und ich musste mir einiges anhören. Gestern. Als mir für eine kurze Weile nichts auf der Welt mehr Angst machen konnte und ich das
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