Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Zwischen jetzt und immer

Zwischen jetzt und immer

Titel: Zwischen jetzt und immer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: S Dessen
Vom Netzwerk:
Spur bringen.
    »Trotzdem ist es komisch.« Ich musste mich regelrecht zwingen weiterzusprechen. »Nachdem er gestorben war, habe ich oft von ihm geträumt, in letzter Zeit allerdings überhaupt nicht mehr. Wahrscheinlich hat es mich deshalb letzte Nacht auch so aufgewühlt. Er steckte in großen Schwierigkeiten, aber ich konnte ihm nicht helfen, was mir totale Angst eingejagt hat.«
    Ich redete viel zu schnell, doch da standen sie zwischen uns   – diese paar Sätze. So viel hatte ich mit meiner Mutter über meinen Vater seit dessen Tod nicht mehr gesprochen. Schon dass ich es überhaupt gesagt hatte, schon dass die Worte die Kluft zwischen innen und außen überwunden hatten, grenzte an ein Wunder. In einer Mischung aus Angst und Aufgekratztheit wartete ich darauf, was als Nächstes passieren würde.
    Meine Mutter atmete tief durch. Ich krallte meine Fingernägel in meine Handflächen.
    »Es war nur ein Traum«, sagte sie.
    Und das war’s. Die ganze Anspannung umsonst. Ich hatte mich so angestrengt, um den Mut zum Springen aufzubringen   – und nichts geschah. Ich fiel nicht, stürzte nicht,flog nicht. Stattdessen stand ich wieder am Rand des Abgrunds, rieb mir verwundert die Augen und fragte mich, ob ich überhaupt je gesprungen war. Irgendwas läuft hier falsch, dachte ich. Meine Mutter saß neben mir am Steuer, die Augen unverwandt auf die Straße gerichtet.
    Sie hielt vor der Bibliothek. Ich nahm meine Handtasche, öffnete die Tür, stieg aus. Glühende Hitze schlug mir vom Asphalt entgegen.
    »Wie kommst du nach Hause?«, fragte sie mich. »Soll ich dich abholen?«
    »Ich finde bestimmt jemanden, der mich schnell fährt«, antwortete ich.
    »Wenn ich nichts anderes von dir höre«, sagte sie, »erwarte ich dich um Punkt sechs am Eingang zum Park, wo der Begrüßungstisch aufgebaut sein wird.«
    Ich nickte und schloss die Tür. Meine Mutter fuhr davon. Ich stand da, blickte ihr nach und merkte auf einmal: Das war ja wie in meinem Traum. Ich stand an derselben Stelle vor der Bibliothek und ein Wagen fuhr davon. Als wäre ich überhaupt nicht aufgewacht. Als würde ich jeden Moment meine Augen aufschlagen und ein anderer Morgen beginnen, an dem alles völlig anders laufen würde. Doch als meine Mutter, kurz bevor sie um die Ecke bog, sich umwandte, um mir zuzuwinken, wirkte sie im Gegensatz zu meinem Vater in meinem Traum nicht so, als hätte sie Angst oder würde mich brauchen. Mit ihr war alles okay. Nein, mir geht’s gut, alles in Ordnung.
     
    Um zwölf Minuten nach neun betrat ich die Bibliothek. Bethany und Amanda, die schon auf ihren Plätzen saßen, blickten auf. Bethany warf erst einen Blick auf die Uhr an der Wand und danach auf mich.
    »Da war ein Stau auf der Cloverdale Road.« Ich stieß die Schwingtür auf und mir das Knie an ihrem Stuhl. Wartete, dass sie etwas zur Seite rückte, damit ich vorbeikam, doch vergeblich. Deshalb schlängelte ich mich um sie herum, mit der Folge, dass mir nun Amandas Stuhl im Weg stand. Die üblichen kleinen Schikanen eben.
    »Ich bin die Strecke auch langgefahren«, meinte Amanda kühl und verrückte ihren Stuhl auf leise quietschenden Rollen so, dass sie mir den Weg noch weiter blockierte. »Ich hatte keine Probleme.«
    Ich manövrierte um sie herum, wobei ich nun dem Papierkorb ausweichen musste, und stellte meine Tasche auf den Boden neben meinem Stuhl, auf dem sich Zeitschriften stapelten. Bevor ich mich hinsetzen konnte, musste ich sie erst einmal auf den Tisch bei meinem Computer legen. Seit Wochen ließ ich mir das gefallen. Seit Wochen. Warum? Weil ich mich verpflichtet fühlte? Wem überhaupt? Etwa Jason? Schließlich hatte
er
seine Verpflichtungen mir gegenüber so problemlos abgeschüttelt wie eine schlecht sitzende zweite Haut. Und meiner Mutter, die mich für nicht pflichtbewusst genug hielt, obwohl ich in der Bibliothek die ganze Zeit still und tapfer vor mich hin gelitten hatte, schuldete ich meines Erachtens erst recht nichts.
    Es stand einfach nicht dafür. Absolut nicht.
    Offensichtlich war ich nicht die Einzige, die von Jasons überraschender Stippvisite erfahren hatte. Den ganzen Morgen über waren Bethany und Amanda richtiggehend ausgelassen, wirbelten und schwatzten, sortierten Rechnungen der Zeitschriften, die in seiner Abwesenheit eingegangen waren, brachten das System auf den neuesten Stand. Meine Wenigkeit wurde ins hintere Zimmer verbannt, um alte, halb verschimmelte Zeitschriften mit Stockflecken zu ordnen.Ich hatte noch etwa zwei

Weitere Kostenlose Bücher