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Zwischen jetzt und immer

Zwischen jetzt und immer

Titel: Zwischen jetzt und immer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: S Dessen
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eingeholt. Er schob Delia in einem Rollstuhl vor sich her   – Delia, die tief, langsam, gleichmäßig atmete. Und ich tat es ihr gleich. Nachdem wir den Fahrstuhl betreten und sich die Tür hinter uns geschlossen hatte, entspannte ich mich etwas. Und spürte, wie es aufwärts ging.
    Ich hatte zwar immer noch Angst, aber inzwischen fühlte es sich anders an als vorher. Seit über einer Stunde saß ich auf einer Bank im Flur vor Delias Zimmer. Zunächst waren Ärzte und Krankenschwestern eher gemächlich hinein- und herausgelaufen. Als würde es noch ungefähr eine Million Jahre dauern, bis wirklich etwas passierte. Doch allmählich steigerten sie das Tempo, zunehmend, deutlich wahrnehmbar, bis plötzlich helle Aufregung herrschte und alle nur noch durch die Gegend wirbelten. Medizinische Gerätschaften piepten, Menschen wurden per Lautsprecher ausgerufen, und als ein Arzt an mir vorbei den Flur entlangjoggte   – sein Stethoskop hüpfte auf seiner Brust im Rhythmus seiner Schritte auf und ab   –, vibrierte der Boden unter meinen Füßen.
    Für mein Gefühl waren alle anderen viel zu ruhig. Vor allem Wes; wenn er sich nicht gerade danach erkundigte, ob mit mir alles in Ordnung sei, mampfte er einen Snack nach dem anderen in sich hinein, die er sich aus dem Automaten eine Etage tiefer besorgte. Gerade öffnete er eine kleine Tüte mit Mini-Schokoladendonuts und bot mir einen an. Ich schüttelte den Kopf.
    »Versteh ich nicht. Wie kannst du bloß zu einem Schokodoughnut Nein sagen?« Er stopfte sich eins der Dinger in den Mund. Ich war mir sicher, dass aus Delias Zimmer indiesem Augenblick ein Stöhnen oder Grunzen oder so was ertönte. Und danach Petes Stimme, die irgendetwas Beruhigendes murmelte.
    »Und wie kannst du bloß irgendwas runterkriegen?«, fragte ich zurück. Eine Krankenschwester, den Arm voll weißer Tücher, Laken und Ähnlichem, trat aus Delias Zimmer und marschierte auf die Empfangstheke am Ende des Flurs zu.
    Wes kaute, schluckte, antwortete: »Das kann sich möglicherweise noch Ewigkeiten hinziehen.« Bert, der auf seiner anderen Seite hockte, schreckte plötzlich hoch und blinzelte; er hatte seit etwa einer halben Stunde friedlich vor sich hin gedöst.
    »Deshalb muss man seine Kräfte zusammenhalten«, setzte Wes hinzu.
    »Wie spät ist es?«, fragte Bert verschlafen und rieb sich die Augen.
    Wes gab ihm einen Doughnut. »Gleich sieben«, antwortete er.
    Mein Magen drehte einen Salto, wobei ich mir nicht sicher war, ob es daran lag, dass ich nun offiziell eine geschlagene Stunde zu spät dran war, um meine Mutter zu treffen, oder an dem Schrei, der in diesem Moment aus Delias Zimmer drang. Ein lauter, langgezogener, sehr eindeutiger Schrei. Wir starrten auf die nur angelehnte Tür, starrten immer weiter, bis der Schrei so abrupt endete, wie er begonnen hatte. Danach herrschte Stille. Ich raffte mich auf.
    »Macy?«
    »Ja, alles okay«, antwortete ich, um Wes’ nächster Frage zuvorzukommen. »Ich will bloß schnell meine Mutter anrufen.«
    Mein Handy hatte ich im Lieferwagen liegen lassen, deshalbging ich zu den Münztelefonen. Unterwegs kramte ich etwas Kleingeld aus meinen Taschen. Beim ersten Versuch war besetzt, deshalb legte ich auf, wählte ein zweites Mal. Immer noch besetzt. Ich entdeckte eine Tür, die zu einem kleinen Innenhof führte, hockte mich dort hin und betrachtete den Himmel. Es wurde allmählich Abend. Perfektes Feuerwerkswetter, sobald es dunkel sein würde. Ich ging wieder hinein, rief noch einmal an. Nach wie vor besetzt. Doch dieses Mal legte ich nicht auf, sondern wartete, bis ihre Mailbox ansprang. Räusperte mich, setzte zu einer versuchsweisen Erklärung an.
    »Hallo, Mama, ich bin’s. Du machst dir bestimmt Sorgen und es tut mir auch echt Leid. Aber als ich gerade loswollte, um mich mit dir am Park zu treffen, setzten bei Delia die Wehen ein. Ich fuhr mit ins Krankenhaus und da bin ich jetzt immer noch. Ich muss warten, bis mich jemand nach Lakeview fahren kann, aber ich komme auf jeden Fall so schnell, wie’s geht. Wirklich, tut mir Leid, entschuldige. Bis bald.«
    Gut, dachte ich, als ich auflegte. Wenigstens das wäre erledigt. Mir war vollkommen klar, dass dieser Anruf nicht die Lösung war, nicht mal ansatzweise. Aber mit dem Problem würde ich mich auseinander setzen, wenn es so weit war.
    Als ich zu der Bank zurückkam, auf der ich mit Wes und Bert gesessen hatte, saß da niemand. Überhaupt sah ich gar keine Menschenseele mehr, weder auf dem Flur noch

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