Zwischen jetzt und immer
die Augen stiegen. Mit gesenktem Kopf bog ich um die erstbeste Ecke in eine Art Nische. Sie war leer. Mein Herz schlug wie rasend. Kaum hatte ich die Nische betreten, schluchzte ich auch schon los. Vergrub mein Gesicht in den Händen und weinte. Die Tränen liefen, strömten, stürzten durch meine Finger.
Ich weiß nicht, wie lange ich dort stand, bevor Wes auftauchte. Sekunden, Minuten, Stunden . . .? Keine Ahnung. Er sagte meinen Namen. Ich wollte mich zusammenreißen, aber es ging nicht.
Als er mich umarmte, tat er es zunächst ganz vorsichtig. Vielleicht erwartete er ja, dass ich zurückweichen würde. Doch ich rührte mich nicht, woraufhin die Umarmung fester wurde. Seine Hände streichelten tröstend meine Schultern. Ich erinnerte mich an die vielen Situationen, in denen ich ausgewichen war, wenn andere Menschen das versucht hatten, wenn meine Schwester oder meine Mutter mich umarmenwollten. Ich hatte mich in mich selbst zurückgezogen und meine Gefühle an einem geheimen Ort vergraben, wo nur ich sie wiederfinden konnte. Doch dieses Mal ließ ich los. Ließ zu, dass Wes mich an sich zog, meinen Kopf sanft an seine Brust drückte. Ich hörte sein Herz schlagen. Regelmäßig. Aufrichtig. Ich merkte, dass irgendwer an uns vorbeiging, in dessen Augen ich vermutlich nur irgendein Mensch war, der im Krankenhaus weinte. Ich konnte es nicht fassen, wie lange ich dazu gebraucht hatte, um es endlich zu begreifen. Delia hatte Recht: Es war okay, es war in Ordnung. Man erwartete es sogar. So verhielt man sich, wenn man trauerte. Man weinte, ließ los, ließ sich umarmen, festhalten. Und ich war nicht die Einzige. Es passierte andauernd.
Als wir auf den Lieferwagen zuliefen, der auf dem Krankenhausparkplatz stand, kriegten wir gerade noch das Ende des Feuerwerks mit. Das grandiose Finale, den besten Teil überhaupt. Bert, Wes und ich blieben stehen und schauten zu, wie die Raketen über uns explodierten. Wir hörten das Zischen und Knallen, während sie in den Himmel schossen, sahen die langen Funkenspuren, die von oben wieder zurückfielen. Avery hat echt Glück, dachte ich. An ihrem Geburtstag wird jedes Jahr automatisch eine Riesenparty gefeiert.
Ich hatte vermutet, dass die Atmosphäre zwischen Wes und mir vielleicht ein bisschen eigenartig sein würde. Nach dem, was da in der Nische passiert war, meine ich. Jedenfalls dachte ich das, als ich hinterher vor dem Waschbecken in der Damentoilette stand, mir kaltes Wasser ins Gesicht spritzte und versuchte, wieder etwas klarer zu werden. Aber er überraschte mich, wie schon so oft, indem er einfach bloß wie selbstverständlich mit mir zu Delias Zimmer zurückging, damit wir uns verabschieden konnten. Als wäre nichts Ungewöhnlichespassiert. Und vielleicht war ja auch nichts Ungewöhnliches passiert.
Wir fuhren nach Wildflower Ridge. Wes hielt am anderen Ende des Parks und damit in einiger Entfernung von dem Bereich, wo Picknick und Feuerwerk stattfanden. Als ahnte er, dass ein kleiner Spaziergang mir gut tun und die Zeit geben würde, die ich brauchte, um mich zu sammeln und auf die nächste Herausforderung einzustellen. Bert, der hinten saß, pennte schon wieder, schnarchte leise mit offenem Mund. Bevor ich die Tür auf meiner Seite öffnete und ausstieg, zog ich vorsichtig, um ihn nicht aufzuwecken, meine Handtasche unter seinem Ellbogen hervor.
Wes stieg ebenfalls aus und reckte sich mit hoch erhobenen Armen, während er um den Lieferwagen herum auf mich zuging. Ein kurzer Blick Richtung Park: Die Party neigte sich bereits ihrem Ende zu. Die Leute sammelten ihre Decken und Kinderwagen und Hunde ein und schwatzten, während sie die Kinder, die noch nicht auf dem Arm oder huckepack eingeschlafen waren, gleich mit einsammelten.
»Was hast du morgen vor?«, fragte Wes.
Ich schüttelte lächelnd den Kopf. »Keine Ahnung. Und du?«
»Nichts Besonderes. Am Nachmittag muss ich ein paar Sachen erledigen. Aber am Morgen wollte ich laufen gehen. Ich dachte, vielleicht probiere ich ja mal die Strecke bei euch im Viertel aus.«
»Ach? Und dann stellst du mir endlich
die
Frage? Hast du vor, sie von der Straße aus zu mir hochzubrüllen?«
»Kann sein.« Er lächelte. »Man weiß nie. Auf jeden Fall rate ich dir, auf alles vorbereitet zu sein. Wahrscheinlich laufe ich gegen neun oder so an eurem Haus vorbei. Übrigens – ich bin der Typ, der nur im Schneckentempo vorankommt.«
»Okay, ich schau um die Zeit mal aus dem Fenster.«
Wes lief zur Fahrertür zurück.
Weitere Kostenlose Bücher