Zwischen jetzt und immer
im Schwesternzimmer. Alles leer. Für einen Augenblick stand ich wie angewurzelt da und hatte das Gefühl, in einem Horrorfilm gelandet zu sein. Doch plötzlich steckte Wes den Kopf durch die Tür zu Delias Zimmer. Er grinste.
»Komm rein und begrüß den neuen Menschen«, sagte er.
Er hielt die Tür für mich auf. Ich betrat das Zimmer. Deliasaß in ein Laken gehüllt aufrecht im Bett. Sie hatte einen hochroten Kopf und hielt ein winziges Wesen mit schwarzen Haaren im Arm. Pete, der neben ihr auf der Bettkante hockte, hatte den Arm um ihre Schultern gelegt. Gemeinsam betrachteten sie das Baby. Im Raum war es still – aber gut still. Selbst Bert, der notorische Schwarzseher, stand am Fenster und lächelte.
Delia blickte auf, bemerkte mich. »Hi«, sagte sie leise und winkte mir zu. »Komm mal her, sag Hallo.« Als ich ans Bett trat, hielt sie das Baby so, dass ich es besser sehen konnte. »Schau mal, ist sie nicht wunderschön?«
Aus der Nähe wirkte das Baby noch winziger; es hielt die Augen geschlossen und gab kleine Schnüffellaute von sich, als träumte es gerade etwas absolut Umwerfendes.
»Perfekt. Sie ist perfekt«, antwortete ich. Und ausnahmsweise war es genau das richtige Wort.
Delia strich mit einem Finger sanft über die Wange des Babys. »Wir werden sie Avery nennen«, sagte sie. »Nach Petes Mutter. Avery Melissa.«
»Schöner Name«, antwortete ich.
Ich betrachtete das Gesicht der Kleinen, ihre winzige Nase, ihre noch winzigeren Nägel an den winzigen Fingern. Und plötzlich überfiel es mich wie ein Flashback: wie wir vorhin im Krankenhaus angekommen und durch die Eingangshalle gelaufen waren; wie viel Angst ich dabei gehabt hatte, weil ich nur noch daran denken konnte, wie es damals mit meinem Vater gewesen war. Ich spürte, wie mich die Erinnerung zu überwältigen drohte, und wollte ausweichen, sie verdrängen; doch dann ballte ich meine Hände zu Fäusten und wappnete mich statt sie auszublenden. Avery hatte die Augen geöffnet und sah mich an. Ihre Augen waren klar und dunkel und ich fragte mich, wie das wohl war:alles zum ersten Mal zu sehen, eine Welt zu erleben, die vollkommen neu war. Mir war dieser Luxus heute nicht vergönnt gewesen, denn alles, was seit unserer Ankunft geschehen war, war eine Art Echo von etwas anderem gewesen.
Ich betrachtete Delia, die wiederum ihre Tochter betrachtete und dabei unter Tränen lächelte. Plötzlich hatte ich meine Mutter vor Augen. Wie sie aus dem Warteraum im unteren Stockwerk heraus- und auf mich zugekommen war. Ich hatte mir in jenem Moment so sehr gewünscht, irgendetwas in ihrem Gesicht zu entdecken, das mir Hoffnung geben würde. Doch da war nichts außer Schock, Trauer, Entsetzen – mein eigener Gesichtsausdruck, der mir gespiegelt wurde. In dem Moment hatte es angefangen. Von da an hatte sich alles zwischen uns verändert. Alles hatte sich verändert – nicht nur zwischen uns.
Irgendetwas tief im Inneren meiner Brust tat auf einmal sehr weh. Und ich wusste, gleich würde ich anfangen zu weinen. Meinetwegen, wegen meiner Mutter. Wegen allem, was uns genommen worden war, aber auch wegen dem, was wir freiwillig aufgegeben hatten. So viel Leben. Und so viel voneinander.
Ich schluckte schwer, wich etwas vom Bett zurück. »Ich . . . äh . . .« Ich spürte, dass Wes mich beobachtete. »Ich muss noch mal versuchen meine Mutter zu erreichen.«
»Richte ihr bitte aus, ohne dich hätte ich es nicht geschafft«, sagte Delia. »Du warst mir eine große Hilfe.«
Ich hörte kaum hin, nickte mechanisch. Delia beugte sich wieder über das Baby und strich die Decke glatt, in die es eingewickelt war.
»Macy«, sagte Wes, als ich an ihm vorbei in den Flur ging.
»Es ist bloß . . .« Ich musste schon wieder schlucken. »Ich . . . ich muss echt mit meiner Mutter reden. Ich meine, sie macht sich bestimmt Sorgen, weil sie nicht weiß, wo ich stecke.«
»Okay, natürlich.«
Auf einmal vermisste ich meine Mutter – die Mutter, die stundenlang aufs Meer hinausgeblickt hatte, die aus voller Kehle lachen konnte – so sehr, dass es wehtat. Der Schmerz pulsierte durch mich hindurch. Ich rang förmlich nach Luft. »Ich erledige das mal eben«, sagte ich zu Wes. »Meine Mutter anrufen, meine ich. Dann komme ich wieder her.«
Er nickte. »In Ordnung.«
Ich umklammerte meinen Oberkörper mit beiden Armen. So lief ich auf den Aufzug zu. Ich ging ziemlich schnell. Kämpfte innerlich darum, ruhig zu bleiben, obwohl mir die Tränen brennend in
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