Zwischen Leidenschaft und Liebe
gelang es ihr, sich auf den Boden niederzulassen. Sie versuchte mit dem Mann zu reden, nahm sogar zu einem Schlag auf seine Wange Zuflucht, aber als sie spürte, wie dünn er war, nur Haut über Knochen, wagte sie es nicht, dieses Mittel noch einmal anzuwenden.
Überhaupt schien der Mann kaum Fleisch auf den Rippen zu haben, war aber groß und breitschultrig, und sie konnte ihn nicht mit ihrem einen gesunden Arm auf den Boden legen. Schließlich gelang es ihr, erst ein Bein und dann das andere auszustrecken. Sie bettete seinen Kopf an ihre Brust und hielt seinen Körper zwischen ihren Beinen. Sie sprach ein stilles Gebet, daß jetzt niemand des Weges kommen und sie in diesem Zustand antreffen möge, und bot ihre ganze Kraft auf, um ihn mit einem Arm von sich wegzurollen und auf den Rücken zu wälzen.
Als er schließlich neben ihr lag, keuchte Claire vor Anstrengung. »Sir«, rief sie ein paarmal, aber er rührte sich nicht. Sie legte ihre Hand an seinen Hals und betete zu Gott, daß sie ihn nicht umgebracht hatte. Er lebte. Offenbar war er aus seiner Ohnmacht in einen tiefen Schlaf hinübergewechselt.
Claire, die noch immer neben ihm saß, seufzte. Was sollte sie nur tun? Sie wagte nicht, sich zu entfernen und ihn liegen zu lassen. Ihres Wissens nach durchstreiften noch Wölfe die schottischen Wälder. Als sie den Mann wieder betrachtete, bemerkte sie, daß er zu zittern begann.
Sie stieß einen zweiten Seufzer aus und zog ihre alte verschossene Wolljacke aus, wobei sie darauf achtete, ihren verletzten Arm möglichst wenig zu bewegen. Nachdem sie die Jacke über ihm ausgebreitet hatte, strich sie ihm vorsichtig die schweißnassen Haare aus der Stirn.
Als sie ihn genauer betrachtete, kam er ihr beträchtlich älter vor. Sie schätzte ihn auf Ende Fünfzig oder Anfang Sechzig, und nach seiner Blässe zu urteilen, hatte er offenbar keine große Lebenserwartung mehr. Sie entdeckte zwei Narben auf seinen Wangen, eine auf jeder Seite - lange, schrecklich aussehende Narben -, und sie fragte sich, was für ein schlimmes Ereignis ihm widerfahren war, das so gräßliche Spuren hinterlassen hatte. Und dann zeichnete sie vorsichtig mit den Fingerspitzen die Narben nach.
Trotz seines Alters war sein Haar dicht und dunkel, und ein dicker Schnurrbart verdeckte fast seine Oberlippe. Seine Lippen waren noch immer voll.
»Du mußt in deiner Jugend recht hübsch gewesen sein«, flüsterte sie, während sie ihm wieder eine Strähne aus dem Gesicht strich. Sie betrachtete nun den Rest seines Körpers. Er war ziemlich groß, vermutlich noch größer als Harry, aber nicht so gebaut wie ihr Bräutigam. Er hatte nicht so kräftige Muskeln und war auch nicht so kompakt wie Harry, sondern eher schlankwüchsig, mit breiten Schultern und schmalen Hüften.
Nachdem Claire den Mann von Kopf bis Fuß gemustert hatte, mußte sie lächeln, denn der Fremde war so seltsam gekleidet wie sie selbst. Er trug ein altes Hemd - ein Hemd, das viel zu dünn war für diesen kalten Morgen —, und sie konnte sehen, daß er nichts darunter anhatte, denn die schreckliche gelbe Farbe seiner Haut schimmerte durch das dünne Gewebe. Seine Beine steckten in einer schmutzigen, speckigen Wildlederhose, die an etlichen Stellen zerrissen war. Das war eine Wildlederhose, die ein Gentleman vielleicht vor fünfzig, sechzig Jahren getragen haben mochte, wenn er in seinen Club ging. Doch eigenartigerweise waren die Stiefel, die er trug, die schönsten, die Claire jemals vor Augen gekommen waren. Sie kannte sich in solchen Dingen aus. Diese Schaftstiefel waren in der Tat von allerbester Qualität.
Vielleicht war der Fremde ein Gentleman, dem das Schicksal hart mitgespielt hatte, überlegte sie. Er fing wieder an zu schlottern; aber ihr ging es in dieser Hinsicht auch nicht besser. Sie blickte auf und sah, daß der Himmel sich mit grauen Wolken bedeckt hatte. Sie spürte, wie ein feiner Regen auf sie niederging. Das war kein Regen, wie sie ihn aus Amerika kannte - der sich mit Blitz und Donner ankündigte und dann auf die Erde herunterprasselte sondern ein fast lautloses, kaltes Nieseln, das eher einem sehr nassen Nebel glich. Sie rieb die obere Hälfte ihres verletzten Armes, um die Kälte zu vertreiben, doch das war ein vergebliches Bemühen. Sie konnte nichts anderes tun als darauf warten, daß der Mann wieder aufwachte, ehe sie sich beide eine tödliche Lungenentzündung holten. Sie fühlte sich fast so wie ein Schutzengel, der für das Wohlergehen dieses Mannes
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