Zwischen Leidenschaft und Liebe
Kaum vorstellbar, wie sie erst mit achtzehn oder neunzehn aussehen wird. Sie ist ein bezauberndes Kind, aber aus irgendeinem Grund nennen ihr Vater und Claire sie >Fratz<. Ich wüßte niemanden, der diesen Namen weniger verdient als sie.«
»Ja, du bist ja auch schon immer eine Kapazität gewesen, was die Beurteilung von Charakteren betrifft, nicht wahr?«
Harry ignorierte diese Bemerkung. Trevelyans Groll auf die Familie war nicht sein Problem.
»Ich werde dich jetzt wieder deinem Schlaf überlassen«, sagte Trevelyan und bewegte sich auf die Tür zu.
»Halte dich von ihr fern«, empfahl Harry.
Trevelyan drehte sich, die Hand auf der Klinke, noch einmal um. »Ich will deine kleine Erbin nicht. In den Augen der jungen Frau habe ich Ehe und ewige Treue gelesen.«
»Mich wird sie heiraten.«
Trevelyan blickte seinen Bruder an, und in seinen Augen spiegelten sich Mitleid und Belustigung. »Dich, deine Schulden und deine Mutter, wolltest du wohl sagen«, erwiderte Trevelyan mit glitzernden Augen. »Schlaf gut, kleiner Bruder.« Damit verließ Trevelyan das Zimmer.
Als Claire am Ende ihres zweiten Tages in Bramley in ihr Bett stieg, zitterte sie vor Erschöpfung. Aber es war nicht die Erschöpfung, die von zuviel Arbeit herrührte, sondern die Erschöpfung eines Menschen, der den ganzen Tag über alles falsch gemacht hatte.
Gestern hatte sie auf Harrys Drängen hin den ganzen Tag im Bett verbracht. Sie war von der Dienerschaft verhätschelt und verwöhnt worden. Man brachte ihr das Essen auf silbernen Tabletts, und nichts auf der Welt war zuviel oder zu gut für sie gewesen. Alles in allem war es ein herrlicher Tag gewesen - ein Tag, wie ihn ihrer Vorstellung nach eine Herzogin verbringen mußte.
Aber dann hatte Harry ihr gestern abend erklärt, daß heute ihr wirkliches Leben auf Bramley anfangen würde und daß es gut für sie wäre, wenn sie heute seine Familie und ihre Lebensweise kennenlernen würde. Sie hatte ihm ein paar Fragen gestellt und erfahren, daß diese Anweisung von seiner Mutter kam. Sie hatte von ihm wissen wollen, wann er sie mit seiner Mutter bekanntmachen würde, aber Harry hatte vage zur Antwort gegeben, dies wäre bald der Fall. Seine Mutter sei oft krank und verließe nie ihre Zimmer.
So war Claire heute morgen mit dem beglückenden Gefühl aufgewacht, daß sie nun endlich in Harrys Familie aufgenommen und daß sie den ihr zustehenden Platz an seiner Seite einnehmen würde.
Doch der Tag hatte schon falsch angefangen. Harrys Mutter hatte es selbst übernommen, eine Zofe für sie auszusuchen -jemand, der Claire helfen sollte, bis sie eine passende Dienerin finden konnte. Punkt acht Uhr war Claire von einer dünnen kleinen Frau geweckt worden. Ihr Haar war grau, ihre Haut war grau, und die Art, wie sie ihren Mund bewegte, wirkte auch grau. Claire sagte, sie wolle ihr rotes Kleid anziehen. Miss Rogers schniefte und kam mit Claires dunkelgrünem Kleid ins Schlafzimmer zurück.
Zunächst dachte Claire, die Frau habe sie nicht richtig verstanden. Doch nein, sie hatte sehr wohl verstanden. Miss Rogers meinte nur, das grüne wäre für den Vormittag besser geeignet. Claire hatte der Frau nachgegeben, weil sie glaubte, sie wüßte es besser.
Claire ging anschließend exakt drei Minuten vor neun zum Frühstück, und dort warteten mindestens zwanzig Leute darauf, das Eßzimmer betreten zu können. Claire war ziemlich erschrocken über die Menschenmenge, weil sie nicht gewußt hatte, daß außer ihrer Familie noch andere Gäste auf Bramley weilten. Sie hatte sich einen Weg durch die Menge zu Harry gebahnt und ihn gebeten, sie vorzustellen, aber Harry war gerade in ein Gespräch vertieft gewesen, das sich um ein Pferd drehte, das er an diesem Tag kaufen wollte, und hatte zu ihr gesagt, er kenne nicht einmal die Hälfte von diesen Leuten. »Verwandte vermutlich«, war alles, was sie aus ihm herausbekommen konnte.
Bevor Claire sich selbst vorstellen konnte, wurden die Türen zum Eßzimmer geöffnet, und all diese Leute strömten hinein, um ihre Plätze einzunehmen. Claire ließ man unter der Tür stehen, aber ein Mann in einer Livree hielt einen Stuhl für sie bereit. Harry saß am Kopfende des Tisches, und Claires Stuhl war von dem seinen sehr weit entfernt.
Da muß ein Mißverständnis vorliegen, dachte sie, stand auf und ging zu Harry. »Sie haben mir ziemlich weit unten einen Platz gegeben«, sagte sie.
Sie wurde sich nur zu sehr der Stille bewußt, die plötzlich am Tisch herrschte, als all
Weitere Kostenlose Bücher