Zwischen Leidenschaft und Liebe
hier im Hause vorgeht. Du darfst niemandem von Trevelyan erzählen. Niemand außer uns beiden weiß, daß er hier ist«, sagte er mit fester Stimme.
»Warum?«
»Er hat seine Gründe. Hast du den Nachmittag mit ihm verbracht? Ist er der Grund, daß du den Lunch und den Tee versäumt hast?«
»Ich habe in seinem Zimmer gelesen.« Ihre Augen leuchteten. »Im Zimmer des Prinzen.«
»Magst du Trevelyan?«
»Ich weiß es nicht«, sagte sie ehrlich. »Er ist ein seltsamer Mann, nicht wahr?«
Harry lachte. »Seltsamer, als du dir vorstellen kannst. Trevelyan hat dich doch nicht angefaßt, oder?«
Claire blickte ihn entsetzt an. »Nicht auf die Weise, wie du das meinst. Er war ein perfekter Gentleman. Nun, nicht ganz perfekt. Er macht mich manchmal sehr wütend, aber er hat ein paar interessante Bücher.«
»Das kann ich mir vorstellen«, sagte Harry in sarkastischem Ton und runzelte die Stirn. Er befand sich in einer Zwickmühle. Schließlich konnte er Claire nicht ohne weiteres verbieten, sich mit Trevelyan zu treffen. Sie würde dann wissen wollen, warum sie ihn nicht sehen durfte, und wenn Harry ihr darauf die Antwort schuldig blieb, würde Trevelyan ihr vielleicht den Grund verraten. Harry traute seinem Bruder durchaus zu, daß er zu ihr sagte: »Mein kleiner Bruder hat Angst, daß du entdecken könntest, daß er gar kein Herzog ist.«
Harry blieb stehen und lenkte den Schritt zum Haus zurück. »Wir können nicht länger im Garten bleiben. Ich muß morgen schon sehr zeitig aus dem Haus und komme erst in ein paar Tagen wieder.«
»O Harry, können wir denn nicht mal einen Tag zusammen verbringen? Kannst du dir denn gar keinen Tag freinehmen von deiner Arbeit? Wäre es nicht möglich, daß du mich mitnimmst auf die Reise?«
»Nicht auf diese. Ich muß morgen schon in aller Frühe aufbrechen - lange, bevor du aufwachst.« Er legte eine Fingerspitze auf ihre Nase. »Aber vielleicht kannst du das nächste Mal mitkommen. Und ich verspreche dir, daß ich nach meiner Rückkehr mehr Zeit für dich haben werde.« Bei diesen Worten runzelte Harry erneut die Stirn. Er hatte geglaubt, die Phase der Brautwerbung sei abgeschlossen, aber dank Trevelyan sah er sich zu einer Nachbesserung genötigt.
Er lächelte auf sie hinunter. »Wie wäre es mit einem Kuß?« Er beugte sich vor, um seine Lippen auf ihre zu pressen. In diesem Moment schlang Claire die Arme um seinen Hals und drückte ihren geschlossenen Mund gegen seinen. Er fand ihren Kuß außerordentlich unbefriedigend; er mochte keine Jungfrauen und hatte auch keine Lust, eine Jungfrau in der Liebe zu unterweisen. Er mochte Frauen, die ihm etwas beibrachten.
Als Harry sie von sich wegschob, spitzte sie immer noch mit geschlossenen Augen die Lippen. Er sah sie düster an und sagte: »Ich fürchte, es ist gar keine so gute Idee, dich hier alleinzulassen. Ich denke, ich sollte mit Mutter reden, daß sie einen Hochzeitstermin für uns festsetzt.«
Claire lächelte ihn an, doch in diesem Augenblick fiel ihr das Manuskript wieder ein, das sie heute gelesen hatte, und all diese Geschichten von der nie enden wollenden Leidenschaft. Aber wo war die Leidenschaft zwischen ihr und Harry? Wo waren die Glocken und die Sirenenklänge? Aber vielleicht mußte man erst die Kunst des Küssens beherrschen, ehe die Leidenschaft sich einstellte.
Sie nahm die Arme von Harrys Hals und schob sittsam die Hand unter seinen Arm, als sie zusammen zum Haus zurückgingen.
Als Claire am nächsten Tag aufwachte, war es vier Uhr morgens, und sie fragte sich, ob Harry das Haus schon verlassen hatte. Leise, um Miss Rogers nicht zu stören, die im Ankleidezimmer schlief, stieg sie aus dem Bett und ging ans Fenster. Es war noch dunkel draußen, und sie konnte kaum etwas sehen. Sie stützte die Ellenbogen aufs Fensterbrett und blickte zum See hin, der sich in einiger Entfernung vom Haus befand. Da war ihr, als bewegte sich dort etwas. Vielleicht ein Reh, dachte sie, aber dann sah sie, daß es ein Mann war.
»Trevelyan«, sagte sie sich, denn ein anderer konnte es unmöglich sein. So schnell und leise, wie sie konnte, zog sie sich an.
Sie war noch im Unterrock, als sie sich sagte, daß sie diesem Mann nicht nachlaufen durfte. Das verbot sich bei jedem Mann - aber ganz besonders bei Trevelyan. Aber dann sagte sie sich, daß sie den Tag sonst wieder allein verbringen müsse, und die Angst vor dem Alleinsein war stärker als ihre Vernunft. Harry wußte schließlich, daß sie in seiner Abwesenheit ihre
Weitere Kostenlose Bücher