Zwischen Licht und Dunkel
isländische „Relativitätstheorie“ zu Papier brachte, erschien in einer isländischen Tageszeitung ein zweiseitiger Artikel: „Die Kunst, Isländer zu sein oder wie es ist, Weltspitze zu sein, wenn die Welt davon nichts weiß“. Sein Autor ist Hallgrímur Helgason, seines Zeichens Schriftsteller, Künstler und – ganz wichtig – Isländer. Als einer, der es wissen muss, nimmt er seine eigene Nation auf die Schippe und trifft den Nagel auf den Kopf. Ich will für den Leser ein paar Zeilen daraus übersetzen. „Mitte des vergangenen Jahrhunderts kamen Isländer darauf, dass in Amerika Cola getrunken wird. Wir beschlossen, das gleiche zu tun. NUR MEHR. Wir haben nicht einmal ein Jahrzehnt gebraucht, um die Amis unter den Colatisch zu trinken. Und wir sind noch dabei. Wir trinken mehr Cola als die US-Amerikaner und essen mehr Hamburger als sie. Wir verdrücken mehr Pizzas als die Italiener und bestellen mehr Café Latte als sie. Wir haben mehr Computer als die Japaner. Benutzen das Internet mehr als die Bewohner von Hongkong. Leben länger als die Kaukasen. Haben mehr Schönheitsköniginnen als Venezuela. Und haben mehr Sex als die Franzosen. Außerdem feiern wir länger als die Spanier und singen viel mehr als die Schweden. … Jetzt ist unser Selbstbild derart, dass wir die Besten der Welt sind. Die kleinste Nation der Welt sitzt ganz oben auf allen internationalen Statistiken. Die meisten Autos pro Haushalt. Die meisten Computer pro Haushalt. Die meisten Schriftsteller pro Haushalt. Nur raus damit. Wir sind in allem am besten. Der Haken daran ist nur, dass niemand davon weiß. Wir sind die unsichtbaren Weltmeister.“ 1
Richtig, der Rest der Welt weiß dummerweise nichts von Islands Spitzenleistungen. Deshalb werden sie jedem Unwissenden unter die Nase gerieben, so oft es nur geht. Eine Position als Reiseleiter beispielsweise bietet hierfür ein geradezu ideales Forum. Ob mein Stefán dieser Beschäftigung deshalb mit so großer Passion nachgeht? Manchmal kann ich ihn begleiten. Dann warte ich nur darauf, dass er mit seiner Islandlobpreisung beginnt. Enttäuscht werde ich nie, da er es wie so viele Insulaner einfach nicht lassen kann. Meistens beginnt eine derartige Aufklärungskampagne mit einem „ Wir sind/haben …“. Wie schön, wenn man sich so uneingeschränkt identifizieren kann mit seiner Nation! „ Wir haben die schönsten Frauen und stärksten Männer!“ Das weiß der Leser bereits. Damit aber noch nicht genug, denn zu ihnen gesellte sich mit Bobby Fischer ein Schachweltmeister. Anfang der 1970er entschied er das Match gegen Boris Spassky für sich, das – tata! – in Reykjavík stattfand. Von 2005 bis zu seinem Tod im Januar 2008 lebte Bobby als isländischer Staatsbürger in der Landeshauptstadt. Seine letzte Ruhestätte fand er ebenfalls auf der Insel. Moment … Miss World, stärkster Mann der Welt und Schachweltmeister? Wenn das nicht jeden Inselbewohner zu der Vorstellung verleitet, selbst schön, stark und intelligent zu sein!
Abschließend bleibt nur noch eines zu ergründen. Was ist die Ursache für dieses Überall-vornedran- sein-wollen, für diese Rekordsucht? Aus isländischer und damit erster Hand wurde ich über die tieferen Beweggründe dieses Verhaltens aufgeklärt: „Wir leiden an einem Minderwertigkeitskomplex, der kleinen Staaten eigen ist, insbesondere kleinen Inselstaaten. Wir müssen uns selbst und anderen beweisen, dass wir mithalten können mit dem Rest der Welt. Und das müssen wir ständig tun.“ Der bereits erwähnte Schriftsteller Arnaldur Indriðason spricht in seinem Krimi Menschensöhne von „unerträglichen Minderwertigkeitskomplexen, die dann … mit Größenwahn kompensiert werden.“ Im konkreten Fall meint er damit zwar die Bevölkerung im nördlichen Island. Ich wage es aber, diese Aussage zu verallgemeinern, und das ohne schlechtes Gewissen.
Was kann ich bissig sein! Ob ich mir solche Gedanken lieber verkneifen sollte, um es mir mit „meinen“ Isländern nicht zu verscherzen? Aber ich stehe mit meiner Meinung nicht alleine auf weiter Flur, sondern bekomme sie sogar aus isländischem Munde immer wieder bestätigt. Ja, selbst mancher Insulaner sieht sich in diesem Licht. Das ist dann allerdings meist einer, der eine Weile im Ausland verbracht hat, was bekanntlich den eigenen Horizont erweitert. „Wir Isländer sind nicht normal“, bekundet Stefán, ohne mit der Wimper zu zucken. Eine junge Isländerin, schätzungsweise Ende zwanzig und frisch
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