Zwischen Nacht und Dunkel - King, S: Zwischen Nacht und Dunkel - Full Dark, No Stars
Driver. Beide wohnten in der Township Road in der Nähe der Firma, die sie von ihrem Vater geerbt haben mussten: Alvin in Nummer 23, Lester in Nummer 101.
Gäbe es einen dritten Bruder, dachte Tess, wären sie die Drei Kleinen Trucker. Einer in einem Haus aus Stroh, einer in einem Haus aus Stöcken, einer in einem Haus aus Ziegeln. Aber leider sind’s nur zwei.
Unten im Erdgeschoss nahm sie ihre Brillantohrringe aus der Glasschale und steckte sie in eine Tasche ihrer Lederjacke. Dabei sah sie die in sitzender Haltung an der Wand lehnende Tote an. In ihrem Blick lag kein Mitleid, nur die Befriedigung, mit der man zum Abschied ein hartes Stück Arbeit musterte, das nun vollbracht war. Wegen belastender Spuren brauchte sie sich keine Sorgen zu machen; Tess war davon überzeugt, keine hinterlassen zu haben - nicht mal ein einziges Haar. Der Topfhandschuh - jetzt mit einem Schussloch - steckte wieder in ihrer Tasche. Bisher war sie clean, aber der schwierige Teil stand ihr vielleicht erst noch bevor. Sie verließ das Haus, stieg in den Expedition und fuhr davon. Eine Viertelstunde später hielt sie kurz auf dem leeren Parkplatz eines Einkaufszentrums, um 23 Township Road, Colewich, in ihr Navi einzugeben.
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Unter Toms Führung gelangte Tess wenige Minuten nach neun Uhr abends in unmittelbare Nähe ihres Ziels. Der Dreiviertelmond stand noch immer tief am Himmel. Der Nachtwind hatte noch mehr aufgefrischt.
Auch die Township Road zweigte von der US 47 ab - allerdings mindestens sieben Meilen vor dem Stagger Inn und noch weiter vor der Innenstadt von Colewich. Die Transport Plaza lag an der Kreuzung zweier Straßen. Den Firmenschildern nach hatten sich dort drei Fuhrunternehmen und eine Möbelspedition angesiedelt. Untergebracht waren
sie in hässlichen Gebäuden, die Fertigbauten zu sein schienen. Das kleinste gehörte der Firma Red Hawk Trucking. An diesem Sonntagabend waren alle dunkel. Hinter ihnen lag ein von einem Streckmetallzaun umgebener riesiger Parkplatz im bläulich weißen Licht von Bogenlampen auf hohen Masten. Dieser Platz stand voller Taxis und Sattelschlepper. Mindestens eine Zugmaschine trug den Firmennamen RED HAWK TRUCKING auf der Tür, aber Tess glaubte nicht, dass es der Peterbilt von der Website - der mit dem stolzen Papa am Steuer - war.
An die Parkfläche schloss sich ein Rasthof an. Die Zapfsäulen, bestimmt über ein Dutzend, wurden von den gleichen strahlend hellen Bogenlampen beleuchtet. Aus der rechten Hälfte des Hauptgebäudes fiel grellweißes Neonlicht; die linke Seite war dunkel. Im Hintergrund lag ein U-förmiges, ebenerdiges weiteres Gebäude. Dort parkten einige wenige Autos und Trucks. Das riesige Schild an der Straße war eine mit Informationen in leuchtendem Rot vollgepackte elektronische Anzeigetafel.
RICHIE’S RASTHOF TOWNSHIP ROAD
»IHR FAHRT SIE, WIR BETANKEN SIE«
NORMAL $ 2.99/GALLONE
DIESEL $ 2.69/GALLONE
NEUESTE LOTTERIELOSE IMMER VORRÄTIG
RESTAURANT SONNTAGABEND GESCHLOSSEN
SORRY, SONNTAGABEND KEINE DUSCHEN
SHOP & MOTEL »STÄNDIG GEÖFFNET«
WOHNMOBILE »IMMER WILLKOMMEN«
Und ganz unten:
UNTERSTÜTZT UNSERE SOLDATEN!
SIEGT IN AFGANDISTAN!
Mit ankommenden und wegfahrenden Truckern, die ihre Fahrzeuge und sich selbst versorgten (auch wenn das Restaurant jetzt dunkel dalag, erriet Tess, dass es zu denen gehörte, die immer Steak, Fritten, Hackbraten und Mama’s Brotpudding auf der Speisekarte hatten), ging es hier an Wochentagen vermutlich zu wie in einem Taubenschlag, aber jetzt am Sonntagabend herrschte gähnende Leere, weil es hier draußen nichts gab, nicht mal ein Rasthaus wie das Stagger Inn.
An den Zapfsäulen stand nur ein einziges Fahrzeug - mit dem Kühlergrill zur Straße, die Zapfpistole im Tank. Es war ein alter Pick-up, ein Ford F-150, mit Bondo-Spachtel um die Scheinwerfer. In dem grellen Licht war die Lackfarbe unmöglich zu erkennen, aber darauf war Tess nicht angewiesen. Sie hatte diesen Pick-up ganz aus der Nähe gesehen und wusste, welche Farbe er hatte. Der Platz am Steuer war leer.
»Du scheinst nicht überrascht zu sein, Tess«, sagte Tom, als sie am Straßenrand hielt und mit zusammengekniffenen Augen zu dem Tankstellenshop hinübersah. Obwohl die Außenbeleuchtung sie blendete, konnte sie darin ein paar Leute erkennen, von denen einer ziemlich groß zu sein schien. War er groß oder richtig groß?, hatte Betsy Neal sie gefragt.
»Natürlich bin ich das nicht«, sagte sie. »Er wohnt hier draußen. Wohin sollte er sonst zum Tanken
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