Zwischen Nacht und Dunkel - King, S: Zwischen Nacht und Dunkel - Full Dark, No Stars
Tür ihrer Box stieß - der dritten rechts, wenn man den Mittelgang hinaufging -, und dann wieder nach vorn schlingerte. Unterdessen waren die anderen Kühe dabei, ebenfalls in volle Panik zu geraten.
Ich schlüpfte in meine Gummistiefel und trabte dann mit dem Gewehr unter dem Arm den Mittelgang entlang. Ich riss die Tür der Box auf und trat einen Schritt zur Seite. Achelois heißt »die den Schmerz vertreibt«, aber nun hatte Achelois selbst Schmerzen. Als sie auf den Gang hinauspolterte, sah ich, dass ihre Hinterbeine blutverschmiert waren. Sie bäumte sich auf wie ein Pferd (was mir bei einer Kuh noch nie untergekommen war), und als sie das tat, sah ich an einer ihrer Zitzen eine riesige Wanderratte hängen. Ihr Gewicht hatte den rosa Stummel zu einem straffen Knorpelschlauch gedehnt. Vor Überraschung (und Entsetzen) gelähmt, musste ich daran denken, wie Henry als kleiner Junge manchmal Kaugummi wie ein Band aus dem Mund gezogen hatte. Lass das!, hatte Arlette ihn dann angefahren. Kein Mensch will sehen, worauf du rumgekaut hast.
Ich hob das Gewehr, ließ es aber gleich wieder sinken. Wie hätte ich schießen können, wo die Ratte doch wie ein lebendes Pendel hin- und herschwang?
Draußen auf dem Gang senkte Achelois den Kopf und wiegte ihn von einer Seite zur anderen, als brächte das irgendwas. Sobald sie wieder auf vier Beinen stand, konnte die Ratte unter ihr aufgerichtet auf dem mit einer dünnen Heuschicht bedeckten Stallboden stehen. Sie glich einem seltsam missgebildeten Welpen mit von Blut gefärbten Milchtropfen in den Schnurrbarthaaren. Ich sah mich nach etwas um, mit dem ich auf sie einschlagen konnte, aber bevor ich
nach dem Besen greifen konnte, den Henry an Phemonoes Box gelehnt hatte, bäumte Achelois sich abermals auf, und die Ratte plumpste zu Boden. Anfangs glaubte ich, sie wäre nur abgeschüttelt worden, aber dann sah ich den runzligen rosa Stummel, der wie eine Zigarre aus Fleisch aus der Rattenschnauze ragte. Die verdammte Bestie hatte der armen Achelois eine ihrer Zitzen glatt abgebissen. Achelois legte den Kopf auf den Querbalken der nächsten Boxentür und mühte mich kläglich an, als wollte sie damit sagen: Ich habe in all den Jahren immer fleißig Milch gegeben und dir nie Schwierigkeiten bereitet - im Gegensatz zu anderen, die ich benennen könnte -, wieso hast du also zugelassen, dass mir das passiert? Unter ihrem Euter sammelte sich Blut an und bildete eine kleine Lache. Sogar in meinem von Schock und Abscheu geprägten Zustand erkannte ich, dass diese Verletzung nicht tödlich war, aber ihr Anblick - und der der Ratte mit der schuldlosen Zitze in der Schnauze - erfüllte mich mit Zorn.
Trotzdem schoss ich nicht auf sie, teils weil ich Angst vor Feuer hatte, aber vor allem nicht, weil ich fürchtete, ich könnte sie mit der Kohlebogenlampe in einer Hand verfehlen. Stattdessen schlug ich mit dem Gewehrkolben zu, um diesen Eindringling so zu erledigen, wie Henry den Überlebenden aus dem Brunnen mit der Schaufel erschlagen hatte. Aber Henry war ein Junge mit guten Reflexen, und ich war ein Mann in mittleren Jahren, der aus tiefem Schlaf geweckt worden war. Die Ratte wich meinem Schlag mühelos aus und trippelte den Mittelgang hinunter. Die abgebissene Zitze wippte in ihrer Schnauze auf und ab, und ich erkannte, dass die Ratte sie auffraß - warm und bestimmt voller Milch -, während sie weglief. Ich jagte hinter ihr her und schlug noch zweimal nach ihr, verfehlte aber beide Male. Dann sah ich, wohin sie lief: zu dem Leitungsrohr, das in den ehemaligen Tränkbrunnen hinunterführte. Natürlich!
Zum Rattenboulevard! Seit der Brunnen zugeschüttet war, war der ihr einziger Ausgang. Ohne ihn wären sie lebendig begraben gewesen. Mit ihr begraben.
Aber diese Bestie ist bestimmt zu groß für das Rohr, dachte ich. Sie muss von außerhalb kommen - vielleicht aus einem Nest im Misthaufen.
Sie sprang zur Öffnung hinauf, wobei ihr Körper sich auf höchst erstaunliche Weise verlängerte. Ich schwang das Gewehr ein letztes Mal und zerschmetterte den Kolben am Rand des Eisenrohrs. Die Ratte verfehlte ich ganz. Als ich mit der Kohlebogenlampe ins Rohr hineinleuchtete, sah ich gerade noch undeutlich ihren haarlosen Schwanz im Dunkel verschwinden und hörte ihre kleinen Krallen auf dem verzinkten Metall kratzen. Dann war sie weg. Mein Herz hämmerte so stark, dass mir weiße Punkte vor den Augen tanzten. Ich holte tief Luft, aber sie war so mit dem Gestank von Zersetzung und Verwesung
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