Zwischen Nacht und Dunkel - King, S: Zwischen Nacht und Dunkel - Full Dark, No Stars
entlangtuckerten.
»Na … das hört sich doch prima an.«
»Ich dachte nur … er ist jetzt so still … so trübsinnig … manchmal starrt er in die Ferne, und ich muss seinen Namen zwei- oder dreimal sagen, bevor er mich hört und mir antwortet.« Sie errötete heftig. »Sogar seine Küsse sind irgendwie anders. Ich weiß nicht, wie ich das erklären soll, aber sie sind anders. Aber wenn Sie ihm jemals sagen, dass ich das gesagt habe, sterbe ich. Ich sterbe einfach.«
»Das täte ich nie«, sagte ich. »Freunde verpetzen einander nicht.«
»Wahrscheinlich bin ich ein Dummerchen. Aber viele von den Mädchen in der Schule sind hübscher als ich … eigentlich sogar alle …«
Ich hob ihr Kinn mit zwei Fingern hoch, so dass sie mir in die Augen schauen musste. »Shannon Cotterie, wenn mein Junge dich ansieht, sieht er das schönste Mädchen der Welt. Und er hat recht damit. Also, wenn ich in seinem Alter wär, würde ich dir auch den Hof machen.«
»Danke«, sagte sie. In ihren Augenwinkeln standen wie winzige Diamanten ein paar Tränen.
»Deine einzige Sorge muss ein, ihn auf seinen Platz zu verweisen, falls er ihn mal verlässt. Burschen können nämlich mächtig in Fahrt kommen. Und wenn ich mal aus der Reihe tanze, musst du’s einfach sagen. Auch das ist in Ordnung, wenn’s unter Freunden passiert.«
Daraufhin umarmte sie mich, und auch ich drückte sie an mich. Eine gute, kräftige Umarmung, aber für Shannon vermutlich angenehmer als für mich. Weil Arlette zwischen uns stand. In jenem Sommer des Jahres 1922 stand sie zwischen mir und jedermann sonst, und Henry erging es nicht anders. Nichts anderes hatte Shannon mir gerade mitgeteilt.
In einer Augustnacht, als die Ernte größtenteils eingebracht war und Old Pies Leute entlohnt und wieder in der Reservation waren, wachte ich von leisen Muhlauten auf. Ich habe das Melken verschlafen, dachte ich, aber als ich nach der Taschenuhr meines Vaters auf dem Nachttisch griff und einen Blick darauf warf, sah ich, dass es erst Viertel nach drei Uhr morgens war. Ich hielt sie an mein Ohr, um festzustellen, ob sie noch tickte, aber ein Blick aus dem Fenster ins mondlose Dunkel hätte denselben Zweck erfüllt. Und es war auch nicht das leicht unbehagliche Muhen einer Kuh, die gemolken werden wollte. Es waren die Laute eines Tieres, das Schmerzen litt. Manchmal sind sie von kalbenden
Kühen zu hören, aber über dieses Stadium waren unsere Göttinnen längst hinaus.
Ich stand auf, wollte zur Tür gehen und trat dann an den Kleiderschrank, um mein Kaliber.22 mitzunehmen. Hinter der geschlossenen Tür seines Zimmers sägte Henry Holz, als ich mit der Waffe in der einen und meinen Stiefeln in der anderen Hand vorbeihastete. Hoffentlich würde er nicht aufwachen und mich bei etwas begleiten wollen, das ein gefährliches Unternehmen sein konnte. In der Prärie gab es damals nur noch wenige Wölfe, aber Old Pie hatte mir erzählt, dass zwischen Platte River und Medicine Creek viele Füchse am Sommerfieber litten, wie die Schoschonen die Tollwut bezeichneten. Irgendein tollwütiges Raubwild im Stall war also vermutlich die Ursache dieser Laute.
Sobald ich aus dem Haus war, klang das schmerzliche Muhen überaus laut und irgendwie hohl. Hallend. Wie von einer Kuh in einem Brunnen, dachte ich. Bei diesem Gedanken bekam ich eine Gänsehaut auf den Armen und umklammerte mein Gewehr fester.
Als ich das zweiflüglige Stalltor erreichte und die rechte Hälfte mit der Schulter aufdrückte, konnte ich hören, wie die anderen Kühe mitfühlend zu muhen begannen, aber diese Laute waren ruhige Erkundigungen im Vergleich zu den schrillen Schmerzenslauten, die mich geweckt hatten … und auch Henry wecken würden, wenn ich nicht bald beendete, was sie verursachte. An einem Haken rechts neben dem Tor hing eine Kohlebogenlampe - wir benutzten hier möglichst keine Laterne mit offenem Feuer, vor allem nicht im Sommer, wenn der Heuboden vollgepackt und alle Maisspeicher bis obenhin gefüllt waren.
Ich tastete nach dem Zündknopf und drückte ihn. Grelles blauweißes Licht breitete sich ringförmig aus. Anfangs war ich zu geblendet, um irgendetwas zu erkennen; ich konnte nur die Schmerzenslaute und die Hufschläge hören,
mit denen eine unserer Göttinnen dem zu entkommen versuchte, was ihr so zusetzte. Es war Achelois. Als meine Augen sich etwas an die Helligkeit gewöhnt hatten, sah ich, dass sie den Kopf von einer Seite zur anderen warf, zurückwich, bis ihr Hinterteil an die
Weitere Kostenlose Bücher