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Zwischen Olivenhainen (German Edition)

Zwischen Olivenhainen (German Edition)

Titel: Zwischen Olivenhainen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lisa Wirthl
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teure Wanduhr neben dem Kühlschrank. Dieselbe Frage sollte sie eigentlich ihm stellen, aber sie ließ es bleiben. Sie folgte seinem Blick. Es war gerade erst halb sechs. Himmel, wann war Raffaello denn verschwunden? Mitten in der Nacht?
    „Immer noch“, entgegnete sie trocken. „Ich bin immer noch hier.“ Mario musterte sie verständnislos, aber sie meinte, Erkenntnis in seinen Augen aufblitzen zu sehen. Bestimmt fragte er sich, warum sie Raffaellos Hemd trug. Es sei denn, er hatte von dem gestrigen Ereignis schon gehört. Vielleicht war er deshalb hier. Sie hatte ihn seit der Razzia an seinem Geburtstag nicht mehr gesehen.
    „Was soll das heißen?“, fragte er und faltete seine Zeitung zusammen.
    „Das soll dein bester Freund dir erklären“, entgegnete sie kühl, dann drehte sie sich um, eilte quer durchs Wohnzimmer auf die Terrasse zu. Sie hatte keinen Blick übrig für die schmalen Eidechsen, die in der frühen Morgensonne über die steinerne Gartenmauer huschten. Sie lief an den drei Autos vorbei, Raffaellos schwarzer Maserati stand nicht dabei. Natürlich nicht. So schnell sie konnte, eilte sie die Auffahrt zwischen den Zypressen hinunter, auf den breiten Schotterweg zu. Sie verschwendete keinen Gedanken daran, dass sie den Weg nicht mehr genau im Kopf hatte und außerdem zu Fuß unterwegs war.
    Sie lief einfach weiter, schimpfte und heulte vor sich hin, stolperte, wich vorbeifahrenden Autos aus, schwitzte in der elenden Hitze und atmete den schrecklich wunderbaren Geruch von Raffaellos Hemd ein. Scheiß auf den Kerl, dachte sie, Scheiß auf ihn! Sie stolperte weiter.
    Irgendwann erreichte sie ihr Ferienhaus. Sie sah es schon von Weitem, und dann rannte sie darauf zu, die Einfahrt hoch. Ihre Füße und Beine schmerzten. Sie war mindestens zwei Stunden lang in der Gegend herumgeirrt, bevor sie endlich auf den richtigen Weg gekommen war.
    „Leslie!“ rief Anne aus, als sie die Tür aufriss. „Wo um Himmels Willen warst du?! Schreibst nichts weiter, als: ‚Bin bei Raffaello‘! Himmel noch mal, der Typ hat echt Nerven!“ Erschöpft zog Leslie die Tür hinter sich zu und lehnte sich dagegen. Anne kam auf sie zu.
    „Im Ernst, ich hätte deinem Mafioso die Polizia auf den Hals gehetzt, wenn du nicht bald aufgetaucht wärst! Du warst doch bei ihm? Egal, also, ich hab’ –“. Sie brachte ihren Redeschwall augenblicklich zu Ende, als sie die Tränen bemerkte, die Leslie die Wangen hinab liefen.
    „Mein Gott, Leslie …! Was hat er getan?!“ Entsetzt und wütend zugleich schloss sie ihre Freundin in die Arme. Jetzt ließ Leslie die Tränen einfach laufen. Scheißegal war ihr alles. Da war keine Wut mehr auf Raffaello – nur eine riesige Portion Enttäuschung.
    „Was war los?“, flüsterte Anne ihr ins Ohr und fuhr mit den Fingern durch Leslies wirres Haar. „Sag schon, Leslie.“ Aber sie konnte es nicht. Brachte es einfach nicht über die Lippen. Sie verschluckte sich bloß an ihren Tränen, als sie es versuchte, und musste husten. Anne klopfte ihr auf den Rücken, wobei das nicht viel brachte, und sagte eine ganze Weile lang nichts. Hielt ihre Freundin nur stumm in den Armen und tätschelte ihr den Rücken. Dann holte Leslie tief Luft.
    „Ich –“, stotterte sie, „ich – hab’ –“ Sie schluckte und fing erneut an zu weinen. Als sie das nächste Mal Luft holte, verschluckte sie sich wieder. Sie hustete.
    „Ich hab’“, stammelte sie dann, „ich hab’ – mit ihm geschlafen“. Anne ließ sie augenblicklich los.
    „Was?!“, kreischte sie und starrte sie entsetzt an. Zupfte an dem Hemd, das Leslie trug. Raffaellos Hemd.
    „Hast du nicht!“, schrie Anne, jetzt etwas leiser, aber nicht minder fassungslos. Leslie nickte. Und heulte.
    „Doch“, wimmerte sie kläglich.
    „Hast du … echt?“ Leslie nickte erneut. Verzweifelt kaute sie auf ihrer Unterlippe herum, damit sie nicht so zitterte.
    „Und? Wie – äh – war es?“, fragte Anne, sogar fast ein wenig neugierig. Leslie blickte sie entgeistert an.
    „Was?!“
    „ Sorry “, nuschelte Anne beschämt. „Oh Mann, Scheiße …!“
    „Ja“, heulte Leslie und vergrub das Gesicht in Annes blondem Haar.
    „Dieser – dieser Scheißkerl! Mafioso! Mörder!“
    „Hör auf!“, jammerte Leslie und machte sich von Anne los. Sie hatte ja keine Ahnung, wie recht sie mit dem Wort „Mörder“ hatte. Das hatte sie fast vergessen. Aber jetzt tauchten die Erinnerungen wieder auf. Klar und deutlich – und wieder zuckte

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