Zwischen Olivenhainen (German Edition)
an.
„Sag mal, hast du sie noch alle?!“, rief sie aufgebracht. „Erst jammerst du mir die Ohren voll, wie ausgenutzt du dich fühlst, bekommst gesagt, dass er dich vielleicht umbringen wird – und dann windest du dich mit dem Kerl auf dem Bett?! Geht’s noch?!“ Sie tippte sich fassungslos an die Stirn.
Leslie erwiderte nichts. Sie hatte vorgehabt, Raffaello mit Schweigen zu strafen, sich nicht von ihm um den kleinen Finger wickeln zu lassen und weiterhin sauer und enttäuscht von ihm zu sein, aber das hatte er gründlich vermasselt. Scheiße, warum wurde sie nur schon schwach, wenn sie ihn auch nur ansah? Es war zum Kotzen.
„Antonio kommt gleich vorbei“, sagte Anne trocken. „Zieh dich besser um, sonst kriegt er einen Schreikrampf.“ Damit verschwand sie aus dem Zimmer. Leslie konnte sie noch im Wohnzimmer vor sich hin schimpfen hören.
Keine zehn Minuten später tauchte Antonio tatsächlich auf. Leslie hatte einige Mühe damit, so zu tun, als freue sie sich, dass er sie endlich wieder besuchte. Mit den Gedanken war sie ganz woanders. Bei Raffaello. Bei Francesco. Gosettis Angebot – und seinen elenden, verstörenden Warnungen.
Bevor sie losfuhren, stopfte Leslie noch schnell Raffaellos Hemd in ihre Tasche. Sie wollte es bei sich tragen, wollte sicher sein, dass sie irgendetwas von ihm dabei hatte. Egal, was Anne sagte oder ob Antonio einen Schreikrampf bekommen würde.
Sie saß auf dem Beifahrersitz neben Antonio in seinem roten Lieferwagen, Anne saß auf der Rückbank, die vollgestapelt mit Pizzakartons war, und Leslie hatte das unangenehme Gefühl, dass sie sie die ganze Zeit über anstarrte.
„Wo fahren wir hin?“, traute sie sich endlich zu fragen.
„Nach Mondello. An den Strand“, sagte Antonio und grinste fröhlich. „Anne meinte, du hättest Probleme mit Ruggiero und müsstest abgelenkt werden.“ Leslie hörte, wie Anne sich an die Stirn schlug. Wahrscheinlich hätte er nicht darüber reden sollen. Aber das war schließlich seine Angewohnheit: Erst sprechen, dann denken.
Der Strandausflug entpuppte sich als Albtraum. Scheinbar hatte Anne Antonio längst über alles, was vorgefallen war, informiert – jedenfalls über alles, was mit Gosetti zu tun hatte – und sobald Leslie sich auf ihr Handtuch gesetzt hatte, ließen sich Anne und Antonio links und rechts neben ihr nieder und fingen an, sie mit todernsten Gesichtern und einem Tonfall, als ginge die Welt unter oder als stünde Leslie bereits mit einem Fuß im Grab, sie dazu zu überreden, Gosettis Angebot mit dem Zeugenschutzprogramm anzunehmen. Leslie ließ ihr Gerede stumm über sich ergehen und konnte nicht verhindern, dass sie die Ohren auf Durchzug stellte.
Antonio sprach von Mafiamorden, Säurefässern und Zeugen, die spurlos verschwunden waren, ohne dass man sie je wiedergefunden hatte. Anne trug Argumente für Gosetti und gegen Raffaello zusammen, zählte die Vorteile auf, die Leslie im Zeugenschutzprogramm erwarten würden. Offenbar hatte sie sich bei Mr. Gosetti genauestens über alles informiert. Irgendwann wurde es Leslie zu bunt.
Mit wenig freundlichen Worten stand sie auf, packte ihre Tasche, sorgsam darauf achtend, dass weder Anne, noch Antonio Raffaellos Hemd zu sehen bekam, und dann marschierte sie quer über den Strand, wich spielenden Kindern aus, fluchte vor sich hin, bis sie in dem alten Fischerviertel angekommen war. Irgendwo musste Antonios Lieferwagen am Straßenrand parken, aber dorthin wollte sie jetzt auf keinen Fall gehen. Und wenn das bedeutete, dass sie zu Fuß zurück zu ihrem Ferienhaus laufen musste. Aber dazu kam es nicht.
Gelangweilt und noch immer wütend schlenderte Leslie durch die engen Sträßchen, vorbei an Restaurants, aus denen ein wunderbarer Duft strömte, als sie jemand ansprach.
„Leslie McEvans?“ Sie drehte sich um. Vor ihr stand ein ihr vollkommen unbekannter Mann Mitte vierzig, nicht allzu groß mit dunkelbraunem Haar, das schon langsam ergraute und einer riesigen Hakennase. Er trug einen schwarzen Anzug.
„Äh …?!“, machte Leslie und sah unsicher zu ihm auf. Besonders vertrauenerweckend wirkte er nicht gerade auf sie.
„Kommen Sie bitte mit“, sagte der Fremde. Sie blieb stehen, wo sie war. Rührte sich nicht vom Fleck. Was hatte man ihr als kleines Kind immer eingetrichtert? Nie mit Fremden mitgehen. Und dieser Fremde war wirklich zum Fürchten.
„Was wollen Sie von mir?“, fragte sie und konnte nicht verhindern, dass ihre Stimme ängstlich klang. Doch
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