Zwischen Olivenhainen (German Edition)
einer Weile beugte er sich vor, ergriff ihre Hand, und drückte sie fest. Was sie keineswegs tröstete. Sie blickte nur weiter aus dem Fenster, hinab auf die Stadt, die immer kleiner wurde, bis sie schließlich mit der Dämmerung verschmolz. Dann folgte nur noch bergiges, kaum bewohntes Gebiet. Ab und zu ein kleines Dorf.
Es wurde immer heller. Die Sonne stieg immer höher, der Helikopter schien einen Geschwindigkeitsrekord hinzulegen und irgendwann, als sie es nicht mehr aushielt, stand Leslie auf, um sich neben Raffaello zu setzen, doch der schob sie zurück.
„Nein, das ist nicht gut“, sagte er und lächelte entschuldigend. „Wegen des Gleichgewichts, verstehst du?“
„Hmpf“, machte sie missmutig und setzte sich wieder. Blickte aus dem Fenster und wünschte sich, er hätte sie irgendwie getröstet. Aber vielleicht war auch er aufgeregt. Daran hatte sie noch gar nicht gedacht. Sie beschloss, ihn in Ruhe nachdenken zu lassen, lehnte sich wieder zurück und schloss die Augen. Wer wusste schon, wie lange sie unterwegs sein würden.
Der Flug dauerte nicht lange. Höchstens fünfzehn Minuten. Leslie schlug die Augen auf. Geschlafen hatte sie nicht, dafür war es viel zu laut hier drin.
„Wir sind da“, sagte Raffaello. Mehr nicht. Er wartete bloß ab, bis der Helikopter sicher auf dem runden Landeplatz zwischen den alten Bäumen in einem riesigen, verwilderten Park gelandet war, dann schnallte er sich ab und kam zu Leslie, um sie von ihrem Sicherheitsgurt zu erlösen. Bevor er aufstand strich er ihr kurz mit den Fingern über die Wange und beinahe hätte Leslie ihn einfach festgehalten, um ihn zu küssen, aber das tat sie nicht. Sie wollte ihn nicht verwirren, wenn er sowieso schon mit den Gedanken ganz woanders war.
Draußen auf dem Landeplatz erwartete sie ein sehr kugelsicher aussehender Wagen. Raffaello ließ sich auf dem Beifahrersitz nieder. Leslie musste sich mit dem Rücksitz zufriedengeben, obwohl sie Raffaello jetzt gerne an ihrer Seite gehabt hätte. Es dauerte nicht lange und sie erreichten eine schier endlose Auffahrt, die von Zypressen und spießig zurechtgeschnittenen Hecken gesäumt wurde. Im Hof, den sie gleich darauf erreichten, stand ein riesiger, aus weißem Marmor gefertigter Brunnen, und plätscherte friedlich vor sich hin. Der alte Palazzo im Barockstil, der sich dahinter erhob, erinnerte Leslie ein kleines bisschen an den von Raffaellos Familie. Teure Autos parkten in einer Reihe vor der breiten Treppe, die links und rechts auf eine riesige Terrasse führte. Raffaellos Maserati fehlte noch.
Sobald Leslie und Raffaello aus dem Wagen stiegen, kamen Männer aus den anderen Autos. Leslie schluckte. Sie fand die Situation schrecklich unwirklich. Wie im Film. Raffaello ging voran, Leslie folgte ihm dicht auf den Fersen und traute sich nicht seine Hand zu nehmen. Außerdem beachtete er sie gar nicht groß, was sie wiederum ziemlich verunsicherte.
Sie musterte ihn von hinten. Seine Sonnenbrille war weit und breit nicht zu sehen. Er trug einen schwarzen Anzug, das Haar war mit Gel zurechtgemacht und er schritt ebenso zügig wie würdevoll die Treppen zu dem riesigen Eingangsportal hoch, dass Leslie nicht anders konnte, als ihn mit seinem Vater zu vergleichen, den sie letztes Jahr gesehen hatte. Plötzlich fühlte sie sich entsetzlich einsam inmitten all der Anzugheinis und auch Raffaellos Anwesenheit änderte nichts daran. Er wirkte wie ein Fremder. Und das verunsicherte sie am meisten.
36
Ihren lebensrettenden Gastgeber bekamen sie gar nicht zu Gesicht. Raffaello verschwand bloß mit Roberto, Lorenzo und einigen anderen Männern in einem der vielen Besprechungsräume auf dem langen Flur und sofort schloss sich die Tür hinter ihnen. Sicher wartete dort irgendein hoher Mafiaboss, mit dem Raffaello befreundet war. Vielleicht stand er auch noch in seiner Schuld und nahm ihn deswegen bei sich auf. Aber das alles interessierte Leslie plötzlich gar nicht mehr. Sie wollte weg von hier. Fort aus diesem riesigen, viel zu spießigen Palazzo . Zu Anne in ihr kleines, gemütliches Ferienhaus. Und sie wünschte sich den alten Raffaello herbei, den sie kennengelernt hatte. Denn der Capo , der gerade mit den anderen hinter der schweren Tür verschwunden war, war ihr unheimlich. Und fremd.
„Sie sind sicher Leslie McEvans?“, sagte eine Frauenstimme hinter ihr. Erschrocken drehte sich Leslie um. Sie stand nicht mehr alleine auf dem ellenlangen Flur. Eine junge Italienerin, Mitte zwanzig mit
Weitere Kostenlose Bücher