Zwischen Olivenhainen (German Edition)
nicht von ihm lassen konnte.
„Wie heißt du?“, fragte er dann auf Italienisch.
Das zweite Mal, dass ein Junge sie an diesem Tag nach ihrem Namen fragte – eigentlich hätte sie sich gefreut, doch in seiner Gegenwart war ihr etwas unbehaglich zumute. Normalerweise interessierten sich Jungs nicht für sie.
„Leslie“, sagte sie deshalb nur.
Er hob die dichten, schwarzen Brauen. „Leslie und … weiter?“
„McEvans.“
„Du kommst aus Schottland!“, sagte er und wechselte urplötzlich wieder vom Italienischen ins Englische. Sie hatte nicht erwartet, dass er so gut Englisch sprach, weil sie in Annes Reiseführer gelesen hatte, dass das nicht viele Leute hier taten, eher sogar noch Deutsch, aber er tat es. Nahezu perfekt, bis auf den leisen, italienischen Akzent.
„Woher weißt du das?“, fragte sie ehrlich erstaunt.
Er zuckte die Schultern. „War geraten.“ Sein Grinsen war umwerfend ansteckend, seine Zähne schneeweiß und gerade.
Aber Leslie lächelte nicht zurück.
„Was willst du von mir?“, fragte sie ihn kühl. Plötzlich war sie genervt und verunsichert zugleich. Warum war er immer wieder in ihrer Umgebung aufgetaucht, nachdem sie ihm seinen blöden Koffer zurückgegeben hatte? Wollte er sie überwachen? Immerhin war das Ding mit einem Sicherheitsschloss versehen worden. Wer wusste schon, was da drin gewesen war …
„Ich habe dir doch deinen blöden Koffer gegeben!“
Das Grinsen verrutschte ihm nicht. Er hörte einfach auf damit. Seine Miene wurde ernst und Leslie hätte es nicht gewundert, wenn er jetzt wieder seine Sonnenbrille aufgesetzt hätte. Aber das tat er nicht. Er sagte nur: „Vergessen wir die Sache mit dem Koffertausch, klar?“
„Wir?“, fragte sie.
Er nickte. „Deswegen bin ich hier“.
Leslie verstand nicht ganz.
„Ich möchte dich gerne auf ein Eis einladen oder einen Drink, ganz wie du willst. Als ‚Versöhnung‘. Ich weiß, dass ich nicht besonders nett zu dir war.“
Das hörte sich ehrlicher an, als Leslie es ihm zugestehen wollte. Mist. Was sollte sie jetzt nur machen? Aber warum hatte er sich nicht einfach aus dem Staub gemacht und sich nicht wieder blicken lassen? Sollte das irgendeinen verrückten Sinn ergeben?
„Also, was ist?“, fragte er, „kommst du mit mir zur Hauptstraße ins ‚Conte‘ ?“
Leslie erschrak. Verflucht, das war das Eiscafé, in dem sie am Mittag mit Anne und Melissa gewesen war. Urplötzlich schoss ihr der Zettel durch den Kopf, den Antonio ihr gegeben hatte. „Wenn ich nicht da bin, fragst du nach Antonio Federico, o. k.?“, hatte er gesagt. Na, hoffentlich war er nicht da. Das fröhliche Glitzern, das in Antonios Augen gelegen hatte, lag nicht in denen von … Moment, wie hieß er eigentlich?
„Wie heißt du eigentlich?“, fragte sie ihn.
Er sah fast ein wenig erschrocken aus und reichte ihr dann ganz gentlemanlike die Hand.
„Raffaello“, sagte er mit rauer Stimme, „Raffaello Ruggiero. Scusi , das hatte ich ganz vergessen.“
Na, offensichtlich war er doch nicht ganz aus der Ruhe zu bringen.
Er lächelte. „Kommst du mit?“, fragte er dann und blickte sie erwartungsvoll an.
Nein, wollte sie sagen, doch sie nickte. Und folgte Raffaello zur Hauptstraße. Er setzte wieder seine Sonnenbrille auf. Leslie hielt so viel Abstand zu ihm, wie nur möglich und scheinbar kümmerte ihn das nicht ernsthaft, denn den ganzen langen Weg zum ‚Conte‘ schlenderte er lässig und schweigend neben ihr her. Sie hatte das Gefühl, dass er es fast als Pflicht sah, sich bei ihr zu entschuldigen und fragte sich, wieso sie dann noch überhaupt mit ihm ging. Wenn es ihm bloß darum ging. Aber dann entschied sie, dass sie gar nicht wollte, dass es um etwas anderes ging.
Leslie hatte gehofft, dass Antonio nicht mehr da war, dass er vielleicht schon Feierabend hatte, aber er war da. Der Blick, mit dem er sie musterte, als sie in Begleitung von Raffaello im ‚Conte‘ auftauchte, ging Leslie schmerzlich durch Mark und Bein. Scheiße, sie fühlte sich verdammt schuldig. Irgendwie richtig gemein. Aber andererseits hatte Antonio sie nicht direkt nach einer Verabredung gefragt. Mickrige, feige Ausrede, dachte Leslie und wurde sogleich wütend auf sich selbst. Da war es wieder, das ewige Mitgefühl, das sie für andere empfand. Sie sah Antonio nicht in die Augen und er tat es ihr gleich. Fast war sie sogar froh darüber.
Raffaello, der die ganze Zeit hinter ihr gestanden und das Gesicht abgewandt hatte, trat nun neben sie und
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