Zwischen Olivenhainen (German Edition)
hatte, die Augen starr geradeaus ins Leere gerichtet. Sie sah so leblos aus. So schrecklich blass und verloren. Als sei mit Antonio ein Teil von ihr selbst gestorben. Das war nicht mehr die Anne, die Leslie kannte. Etwas in ihr schien zerbrochen zu sein, es schien, als habe irgendetwas ihr alle verbliebene Kraft geraubt.
Leslie wandte den Blick von ihrer Freundin ab. Und nun kamen sie doch, die Tränen. Nur wenige, aber sie galten weder Antonio, noch Raffaello. Sie galten Anne. Sie fühlte sich mit einem Mal unendlich schuldig. Dafür, dass sie Anne überhaupt erst in diese ganze Sache hineingezogen hatte. Wütend zerriss sie das Taschentuch, das Gosetti ihr hinhielt, und ließ die Fetzen zu Boden segeln.
„Wir werden ein Verfahren gegen ihn einleiten“, sagte Gosetti schließlich. „Mit den Bruchstücken an Beweisen und Aussagen, die wir bis zu diesem Zeitpunkt sammeln konnten, sollte es uns möglich sein, ihn wenigstens vor Gericht zu bringen.“ Er seufzte,
„Sein Anwalt wird ihn da raushauen, aber einen Versuch ist es wert. Die Geste und der Wille zählen auch. Antonio ist nicht das einzige Opfer, glaub mir. Und seine Familie ist nicht die Einzige, die die Cosa Nostra zutiefst hasst.“ Leslie schauderte, als er ihr beinahe freundschaftlich eine Hand auf die Schulter legte.
„Ich wollte nur, dass du es weißt, Leslie“, sagte er ruhig. „Ruggiero wird dir sicher nichts erzählen. Er hält dich aus dem Kram raus, hm?“ Sie zuckte die Schultern.
„Ist doch scheißegal“, sagte sie matt.
„Anne sagte, er holt dich morgen ab“, entgegnete Gosetti fast lauernd. „Stimmt das?“ Sie presste die Lippen zusammen. Rang mit sich – und dann nickte sie. Es spielte schließlich keine Rolle, wann Raffaello auf den Commissario treffen würde.
„Dann erzähle ihm nur, was ich gesagt habe“, sagte Gosetti. „Wenn er sich denn traut, persönlich vorbeizukommen und nicht jemanden schickt, der dich abholt. Wenn du überhaupt mit ihm kommen willst.“
Das hatte gesessen. Und zwar gründlich. Plötzlich wusste sie es nicht mehr. Wusste nicht, ob sie sich traute Raffaello wiederzusehen. Ob sie seinen so vertrauten Anblick in so einer Situation verkraften konnte, wo sie genau wusste, dass er schuld war an Antonios Tod. Und dass er es nicht bereute. Sie gab Gosetti keine Antwort, hörte ihm auch nicht mehr zu. Wartete nur stumm darauf, dass er ging, zusammen mit seinen Leuten und sie endlich in Ruhe nachdenken ließ.
46
Es war mitten in der Nacht, als Leslie mit Anne in der unbeleuchteten Küche saß und vor sich hinstarrte, in die halb abgebrannte Kerze, die Anne für Antonio angezündet hatte. Stundenlang hatten sie beide stumm dagesessen und kein Wort geredet, hatten nur ihren eigenen Gedanken nachgehangen. Das flackernde Licht der Flamme tauchte Annes Gesicht in tanzende Schatten, als sie endlich zu Leslie aufsah.
„Er hat gewusst, dass es sein Todesurteil sein würde“, flüsterte sie, „und er hat es trotzdem getan. Für dich, glaube ich.“ Leslie verzog das Gesicht, sagte aber nichts dazu. Sie versuchte nur, das Bild, das sie von Raffaello im Kopf hatte, das des Verbrechers, des skrupellosen Mafiabosses, das Gosetti ihr eingeredet hatte, aus ihren Gedanken zu verbannen.
„Hast du eigentlich gewusst, um was es wirklich ging, als er dich mit nach Kalabrien genommen hat?“, fragte Anne irgendwann leise in die Stille hinein. Leslie biss sich auf die Unterlippe. So fest, dass sie meinte Blut zu schmecken. Sie spürte, dass sie nie wirklich geglaubt hatte, dass es allein wegen Francesco gewesen war – oder wegen ihr. Dass es um ihre Sicherheit gegangen war. Und sie hasste sich dafür, dass sie an Raffaellos Worten zweifelte.
„Er wollte seine eigene Haut retten, Leslie“, sagte Anne. „Nur darum ging es. Weil er von den Morddrohungen wusste. Ich hab’ keine Ahnung, warum er dich mitgenommen hat, vielleicht – und Gott steh’ mir bei – liebt er dich ja wirklich. Aber es ging nur um ihn, Leslie.“ Sie schüttelte langsam den Kopf, ihre hellblauen Augen blickten ausdruckslos zu ihr auf.
„Die haben nur darauf gewartet, dass er zurückkommt“, sagte sie leise. Und irgendwann musste er das, dachte Leslie grimmig, nicht ahnend, dass Antonio eine Überraschung für ihn bereithielt.
„Antonio hat ihn an Spavento verraten“, sagte sie irgendwann, doch es gelang ihr nicht, den Trotz, den sie versucht hatte in ihrer Stimme einzubringen, aufrechtzuerhalten. Sie hörte selbst, wie erschöpft
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