Zwischen Olivenhainen (German Edition)
schaute sie Raffaello nicht in die Augen, doch sie spürte seinen Blick auf sich ruhen. Den ganzen Tanz über. Leslie konzentrierte sich auf die Musik, auf den Rhythmus, auf die starke Stimme der Sängerin, auf die Dramatik und die unentschlossenen Gefühle, die sie mit ihrem Text ausdrückte, und mit einem Mal fühlte sie sich selbst vollkommen in ihre Situation hineinversetzt, was sie ziemlich erschreckte.
„ I don’t know why I want you so. ’Cause I don’t need the heart break ”, schallte es aus den Lautsprechern und Leslie wurde mit Schrecken die Bedeutung dieses Satzes klar und sofort verwarf sie die verwirrten Gefühle, die sich in ihrem Magen tummelten. Das war die Musik. Nur die Musik, nichts weiter, dachte sie. Musik hatte schon immer einen starken Einfluss auf ihre Gefühle gehabt, also war das nicht real. Niemals.
Die Klänge nahmen sie mit sich, trugen sie fort, an einen anderen Ort und bald spürte sie nur noch den warmen Druck von Raffaellos Händen, aber auch der verschwand irgendwann fast gänzlich, aber sie spürte seine Anwesenheit. Stärker, als zuvor – und da öffnete sie entsetzt die Augen. Scheiße, sie hatte sie doch tatsächlich geschlossen. Wie beknackt musste das denn ausgesehen haben?! Schon merkte sie, wie ihr das Blut in den Kopf schoss und sie brauchte eine ganze Weile, bis sie sich traute, zu Raffaello hinaufzulinsen.
Er sah sie aus seinen tiefbraunen Augen an. Ein leises Lächeln spielte um seine Mundwinkel. Nichts verriet, dass er sich womöglich lustig über sie machte oder dass es ihm vor allen anderen peinlich war, mit einer Schlafwandlerin zu tanzen. Schnell wandte sie den Blick wieder von ihm ab, aber ihr Gesicht fühlte sich noch immer unerträglich hitzig an. Mist, verdammter. Sie senkte den Kopf, sodass ihre langen Haare nach vorne fielen und es verdeckten. Das war einer der Vorteile, wenn man lange Haare hatte, die einem fast bis zur Taille reichten.
„Wir tanzen genau in der Mitte der Fläche“, sagte Raffaello plötzlich leise zu ihr. „Keiner hat gesehen, dass du die Augen geschlossen hast.“
„Doch. Du“, entgegnete sie fast kleinlaut. Darauf antwortete er nicht, bis er sie einmal im Kreis gedreht, von sich weg und wieder zu sich zurückgeholt hatte.
„Ist dir das wirklich so peinlich, Leslie?“, fragte er dann. Sie antwortete nicht.
„Ich denke manchmal darüber nach, dass Musik Zauberei ist“, sagte er nach einer Weile, in der er sie im Kreis gedreht hatte, bis Leslie einigermaßen schwindelig wurde und sie ihm erneut auf die teuren Schuhe trat, was er peinlicherweise schon gar nicht mehr kommentierte. Sie wusste nicht, was sie darauf hätte antworten können und so hielt sie den Mund, ließ sich von ihm nach links drehen und nach rechts, trat ihm auf die Füße, bis er anfing, leise zu lachen, aber er hatte sich gleich wieder unter Kontrolle und vermied es, auf den Text und die Musik zu achten, der sie nur zu gerne gefolgt wäre, was dazu führte, dass sie immer häufiger aus dem Takt kam. Zum großen Bedauern von Raffaellos Schuhen.
„Achte auf die Musik“, sagte er plötzlich. „Oder hast du Angst, loszulassen?“ Verkrampft klammerte sich Leslie an seine Schulter und ihr Herzschlag setzte beinahe aus, als sie Raffaellos Stimme auf einmal ganz dicht neben ihrem Ohr hörte.
„Kannst du nicht einfach mal den Moment genießen?“, fragte er so leise, dass sie ihn fast nicht verstand. Und genau das fand sie so erschreckend. Das passte nicht zu ihm. Absolut nicht. Er hatte ein Macho zu sein – und kein Romantiker. Auf den ‚Moment‘, von dem er gesprochen hatte, konnte sie sich nun erst recht nicht mehr konzentrieren. Plötzlich wünschte sie sich weit weg. Zu Anne. Oder vielleicht sogar zu Melissa. Irgendwohin, wo diese seltsame Junge nicht mehr war, der sie so aus der Fassung brachte. Und schon spürte sie, wie sie sich in sich zurückzog. Sich klein machte. Ihre Abwehrhaltung. Eine Maske – genau wie die von Raffaello. Über diese Gemeinsamkeit erschrak sie.
„ Scusi “, sagte er plötzlich, „ich wollte dir nicht zu nahe treten oder so …“
„Schon gut“, entgegnete sie nur leise. Sie sah ihn nicht an, und da war der ‚Moment‘ vorüber, der Moment mit Raffaello, denn auf seinem Gesicht erschien wieder das Macholächeln. Und Leslie fühlte sich unwohler, als zuvor.
Als sie den Tanz beendeten und er sie noch einmal im Kreis gedreht hatte, klatschten die Zuschauer Beifall. Dann füllte sich die Tanzfläche mit
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