Zwischen Pflicht und Sehnsucht
ein Radikaler in Sicht und kein einziges liederliches Frauenzimmer.“
„Sehr amüsant.“ Charles verzog das Gesicht.
„Nun, ich verfüge über Informationen aus erster Hand, was du in leeren Räumen alles anstellst.“
„Hör auf, Sophie, können wir nicht einen Moment lang ernst bleiben?“
Sie atmete tief durch und straffte die Schultern. Er wünschte, sie würde das sein lassen – ihr Ausschnitt und alle seine Muskeln spannten sich. „Du hast ganze zwei Wochen lang ignoriert, dass es mich gibt, und jetzt, ausgerechnet auf deinem Fest, siehst du dich veranlasst, mit mir zu sprechen?“
„Das Fest meiner Mutter, aber ja.“
Sie wartete; er starrte sie an und versuchte, seine Gedanken zu ordnen. Was gab es zu sagen? Tausend Gedanken gingen ihm durch den Kopf, er musste den richtigen auswählen.
„Du bist schon einmal geküsst worden.“
Fassungslos starrte sie ihn an. Er stöhnte auf und fuhr sich durchs Haar. Das war nicht der richtige gewesen.
Ihre Brust hob und senkte sich nun im gleichen Rhythmus wie sein Magen. „Wie bitte?“, keuchte sie. „Du hast mich hierhergezerrt, um das zu besprechen? Das hast du aus unserer … Begegnung mitgenommen?“
Der Herr sei ihm gnädig, aber so war es. Obwohl er diesen Gedanken bisher nicht klar formuliert hatte, hatte er an ihm genagt, ihn vielleicht mehr gequält als alle anderen Sorgen. „Du wusstest, wie man küsst. Jemand hat es dich gelehrt.“
Sophies Lachen klang trostlos. Sie wandte sich ab und ging.
Was hatte er erwartet? Sie hatte jedes Recht, den Raum zu verlassen und nie wieder mit ihm zu sprechen, aber er konnte sich nicht zurückhalten, er musste es wissen.
„War es Sean Hill?“
„Der Sohn des Hufschmieds?“ Wut ließ sie auf dem Absatz kehrtmachen. Ihre dunklen Augen blitzten, ihre Wangen röteten sich, und sie ging auf ihn los wie die Franzosen auf Wellingtons Frontlinie.
„Du warst fort, Charles. Du bist aufs Internat gegangen und hast nie zurückgeblickt. Ich war dir nicht böse. Ich wusste, wie es mit deinem Vater war.“ Sie blieb vor ihm stehen, großartig in ihrem Zorn. „Aber ich war noch da. Ich wäre wahrscheinlich immer noch da, wenn Emily und deine Mutter nicht gewesen wären. Hast du geglaubt, die Jungen würden sich von mir fernhalten, nur weil ihre Mütter mich nicht billigten? Dummkopf – weißt du nicht, dass mich das nur umso interessanter machte?“ Ihre Stimme erstarb zu einem Flüstern. „Ich war allein, Charles.“ Sie fasste sich und warf ihm einen herausfordernden Blick zu. „Ich danke Gott für Emily. Wenn wir nicht Freundschaft geschlossen hätten, hätte ich wohl weit Schlimmeres getan, als einem Jungen zu gestatten, mich zu küssen.“ Sie schnaubte verächtlich. „Ich wäre mit dem erstbesten Mann, der alt genug gewesen wäre, mich zu fragen, nach Gretna Green durchgebrannt, um ihn zu heiraten, nur um mich mit jemandem unterhalten zu können.“
Charles war kaum in der Lage zu antworten. Das Bild, das sie zeichnete, war niederschmetternd. „Ich wusste nicht … ich habe nie daran gedacht …“
Sie sah ihn direkt an. „Urteile nur über mich, wenn du willst, Charles Alden. Aber vergiss nicht, ich habe dich nie verurteilt. Ich habe applaudiert, als der Rest der Welt dich für deine Untaten geschmäht hat, und habe mir gewünscht, an deiner Seite zu sein und mit dir Schabernack zu treiben. Ich habe dich nicht verurteilt, als du all die Jahre fortgeblieben bist, ohne je von dir hören zu lassen. Zu Phillips Beerdigung bist du für – wie lange? – ganze zwei Tage nach Hause zurückgekehrt. Und noch kürzer zu der deines Vaters, aber mich bist du nie besuchen gekommen.“
Ihr Zorn war verraucht. Jetzt las er nur Enttäuschung in ihren Augen. „Ich habe dich nicht verurteilt. Auch als du mich vergessen hast.“ Mit wirbelnden Röcken fuhr sie herum. Diesmal war sie es, die aus dem Raum stürzte, ohne sich umzudrehen.
Habe ich sie vergessen ? Charles saß da und ignorierte sein Abendessen, nickte zu dem, was Miss Ashford sagte – sie hatte beschlossen, dass ihr Ball ein Maskenball werden sollte –, und versuchte, sich selbst diese Frage zu beantworten.
Nein, er hatte Sophie nicht vergessen. Unbewusst hatte er die Erinnerung an sie in seinem Herzen bewahrt und war sich immer sicher gewesen, dass, egal, was für einen Unsinn er anstellte, es einen Menschen auf dieser Welt gab, der ihm vergeben würde. Aber er hatte sie unverändert im Gedächtnis behalten und nie darüber nachgedacht, dass
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