Zwischen Pflicht und Sehnsucht
gesessen, direkt gegenüber dem Haus, in dem Sophie schlief? Eine Kerze wurde hinter einem der oberen Fenster entzündet, und Charles lachte leise. Vielleicht hatte das Schicksal endlich Mitleid mit ihm. Es gab keine andere Erklärung. Das musste Sophie da oben sein, die lange vor allen anderen wach war.
Es gab nur eine Möglichkeit, das herauszufinden. Er sammelte ein paar kleine Steine auf und warf sie ans Fenster.
Sophie hatte eine unruhige Nacht gehabt. Kurz vor dem ersten Tageslicht hatte sie schließlich den Versuch zu schlafen aufgegeben. Sie hatte kein Auge zugetan, und immer noch waren ihre Gedanken aufgewühlt.
Die halbe Nacht hatte sie damit verbracht, vor Wut über Charles zu schäumen. „Du bist geküsst worden“, pah! Wie konnte er es wagen? Wo er selbst Jahre damit zugebracht hatte, sich amourösen Abenteuern zu widmen? Er benahm sich wie ein kleiner Junge; er wollte nicht mit ihr spielen, aber er wollte auch nicht, dass sie mit jemand anderem spielte.
Nie hätte sie geglaubt, dass er so scheinheilig sein könnte. Sie schüttelte den Kopf. Wie naiv von mir. Ich habe mich nach der alten Verbundenheit mit ihm gesehnt und meiner Fantasie gestattet, mit mir durchzugehen . Das Verständnis und die Innigkeit, die zwischen ihnen geherrscht hatten, waren so stark gewesen, so lebensnotwendig für sie, dass sie angenommen hatte, sie würden die Jahre der Trennung überstehen.
Sie seufzte. So vieles hatte sich verändert. Er hatte recht, sie kannte den neuen Charles nicht, aber sie begann zu vermuten, dass er sich selbst nicht kannte.
Dieser Gedanke brachte sie zurück zu Nells Versuch, über die Dienstboten der Familie etwas herauszubekommen. Obwohl die Zofe Spaß am Ränkespielen fand, war sie nicht sehr erfolgreich gewesen. Das einzig Interessante, was sie gehört hatte, war, dass der alte Lord Dayle sehr aufgebracht gewesen war, als Phillip den Auftrag von Lord Castelreagh angenommen hatte und mit wichtigen Papieren zu Wellington nach Brüssel gereist war. Sophie war sich noch nicht sicher, wie er bei der Schlacht von Waterloo gelandet war, aber sie nahm an, dass das keinen Unterschied machte. Phillip war gefallen, genau wie viele Tausend andere gute und edle Männer dort.
Doch wurde sie das Gefühl nicht los, dass Charles etwas verbarg. Eine unerklärliche Verzweiflung umgab ihn, und er schien geradezu getrieben , die Männer in der Regierung mit seiner Charakterfestigkeit und seinem Verantwortungsbewusstsein zu beeindrucken. Und was hatte es mit den seltsamen Gerüchten über Lord Dayles Tod auf sich? Nein, da steckte mehr dahinter, als sie bis jetzt erkennen konnte. Sophie schüttelte den Kopf und klingelte nach Nell. Wenn sie noch länger in ihrem Zimmer blieb, würde sie ersticken. Sie musste nach draußen, frische Luft atmen und den Kopf freikriegen.
Ein leises, klirrendes Geräusch ganz in der Nähe ließ sie zurück ins Bett springen. Mit klopfendem Herzen und sicher unter ihrem Nachthemd versteckten Füßen inspizierte sie den Boden. Da war das Geräusch wieder, am Fenster, aber sie sah kein Anzeichen für eine Maus oder Ratte. Noch einmal, lauter, und jetzt erkannte Sophie das Klirren. Lachend stieg sie aus dem Bett, zog die Vorhänge zurück und sah nach unten.
Charles. Da stand er grinsend, immer noch in den Kleidern des vergangenen Abends.
Sie öffnete das Fenster. „Bist du verrückt?“, rief sie leise. „Was soll das?“
„Komm herunter!“
„Jetzt? Kannst du nicht wie alle anderen Gentlemen eine ordentliche Morgenaufwartung machen?“
„Wo bliebe denn da die Spannung?“ Er deutete auf das aufkeimende Licht im Osten. „Es ist Morgen. Komm! Wir müssen reden.“
Hinter ihr klopfte Nell verschlafen an die Tür und betrat den Raum. Schnell war sie jedoch hellwach, als sie die Lage begriff. „Miss!“, keuchte sie.
„Ich bin gleich unten, Charles“, rief Sophie ihm zu. Sie wandte sich an das Mädchen. „Ich weiß, Nell. Ich bitte dich, sieh mich nicht so an! Hol einfach meinen Morgenrock, ja?“
Oh, Gott, was für eine Närrin sie war. Doch sie konnte nicht anders. Das war wie in alten, besseren Zeiten und damit nahezu unwiderstehlich. Sie warf sich den warmen Morgenrock über, schlich, gefolgt von Nell, leise die Stufen hinunter und trat hinaus in die kühle Morgenluft. Die Straße war menschenleer bis auf Charles, der sie vom Tor zum Park aus zu sich winkte. Sie ließ die Zofe zurück und lief leichtfüßig über die Straße.
„Du Schwachkopf! Ich dachte, du
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