Zwischen Pflicht und Sehnsucht
doch hatte sie stets den Kopf hoch erhoben gehalten. Aber diesmal traf sie jeder erfundene Bericht über ihre Verruchtheit wie ein Schlag, der die hässliche Wahrheit immer tiefer einhämmerte. Nicht gut genug. Nicht gut genug.
Für ihren Onkel war sie eine Enttäuschung gewesen, zu ihrer Tante war sie nie durchgedrungen, die Leute in Blackford Chase hatten sie wie eine Aussätzige behandelt. Einzig Charles hatte ihr jemals das Gefühl gegeben, für das, was sie war, gemocht zu werden. Der Rest Londons konnte ihr gestohlen bleiben! Was ihr solche entsetzlichen, mit jedem Atemzug wachsenden Qualen verursachte, war der Verlust dieser Überzeugung, der Verlust der Gewissheit von Charles’ Zuneigung. Seit dem Tod ihrer Eltern hatte sie sich nicht mehr so verlassen gefühlt.
Emilys Familie litt ebenfalls. Am ersten Tag war deren Empfangszimmer erfüllt von hektischer Aktivität, als Damen und Herren der Gesellschaft vorbeikamen, um ihr Mitgefühl auszudrücken, sich hämisch zu freuen oder einfach nur im Zentrum der Gerüchteküche zu sein. Sophie war auf ihrem Zimmer geblieben und hatte mit einer Mischung aus Furcht und Vorfreude darauf gewartet, dass Charles kommen würde. Er kam nicht.
Die Zahl der Besucher versiegte langsam. Furcht lag im ganzen Haus in der Luft. Tiefe Stille, betrübte Gesichter, gesenkte Stimmen. Schließlich konnte Sophie es nicht mehr ertragen. Sie packte ihre Sachen und fuhr allein nach Sevenoaks.
Das war genau das, was sie brauchte. Sie stürzte sich auf die schmutzigste Arbeit, die sie finden konnte. Keine Aufgabe war zu klein, um nicht ihre ganze Aufmerksamkeit zu fordern. Tapeten abnehmen, Stoffe aufhängen und Verputz ausbessern beschäftigten sie voll. Sie konzentrierte sich darauf, die verletzte Eitelkeit des italienischen Stuckateurs zu besänftigen, anstatt ihr eigenes verletztes Herz zu trösten. Sie verbrachte ihre Zeit damit, die Leidenschaft des Tapezierers für rote Wandbespannungen zu bremsen, statt sich mit der Leidenschaft zu befassen, die so hell zwischen ihr und Charles aufgeflammt war.
Sie arbeitete fast jeden Tag unaufhörlich und fiel spät abends erschöpft ins Bett; eine gute Methode, schmerzliche Erinnerungen zu vermeiden. Unglücklicherweise funktionierte sie nicht. In der Stille und Dunkelheit ihrer einsamen Nächte war ihr Geist zu wach, um ihrem Körper Ruhe zu gönnen. Tausendmal änderte sie ihre Meinung. Charles hatte recht, er verlangte nicht zu viel. Nicht wenn es ihnen ermöglichte, zusammen zu sein. Müde und mit wundem Herzen dachte Sophie darüber nach, ihn zu heiraten, ihr Leben mit ihm zu verbringen, und sie wusste, sie würde es tun. Sie würde sich in einen Elefanten verwandeln, wenn er es verlangte. Und doch machte sie sich jeden Morgen wieder an die Arbeit anstatt auf den Weg zurück nach London. Sosehr sie sich nachts nach Charles sehnte, kehrten doch im klaren Morgenlicht böse Erinnerungen zurück. Kalte Augen, harte Worte, hohe, feste Mauern, die sie ausschlossen.
Wollte er tatsächlich, dass sie sich in eine schickliche Langweilerin wie Miss Ashford verwandelte? Sie schüttelte den Kopf. In langen Jahren der Einsamkeit und Vernachlässigung hatte sie Bitterkeit und Verzweiflung bekämpft; hatte sich geweigert, verschlossen und zornig zu werden. Sie konnte jetzt nicht aufgeben, nicht mal um der Liebe willen.
Das war die Krux dabei: Liebe. Charles begehrte sie, er wollte sie, aber er liebte sie nicht. Liebe unterstützt, Liebe fördert, sie verlangt nicht, dass man sich ändert.
Also arbeitete Sophie mit gefestigter Entschlossenheit an der Seite ihrer Handwerker, und langsam näherte sich das Projekt seiner Vollendung. Das Haus war noch schöner geworden, als sie gehofft hatte, und sie konnte sich Charles hier nur allzu gut vorstellen. Sein Bild tauchte überall auf: in der Bibliothek, in der Eingangshalle, im Schlafzimmer. Er würde viele glückliche Stunden hier verbringen. Ohne sie.
Schließlich hatte sie die Wahrheit akzeptiert. Sie hatte viel Zeit gehabt, in sich zu gehen. Sie war jetzt erwachsen, und es war Zeit, endlich zwischen Traum und Realität zu unterscheiden. Charles war ein Traum. Aber was war ihre Realität? Das hier, wurde ihr klar, als sie sich umsah. Egal, was die Gesellschaft dachte, egal, was Charles glaubte, sie wusste, was für ein Mensch sie war. Vielleicht nicht perfekt, aber sie besaß Talent, die Fähigkeit, Schönheit in das Leben der Menschen zu bringen. Die Gesellschaft war ihr nun verschlossen, und sie würde
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