Zwischen Rom und Mekka
der Taube
Man kann sich zudem gar nicht so sicher sein über Entstehung und Zusammensetzung der heiligen Schriften. Es gibt schöne Bilder in der abendländischen Kunst, auf denen der Heilige Geist in Gestalt einer Taube den Schreibern die göttlichen Worte ins Ohr flüstert. War es so auch bei den jüdischen Propheten? Bei den Evangelisten und Aposteln? Oder im 7. Jahrhundert beim Propheten Mohammed? Und wenn gelehrte und verehrte Geistliche versichern, es sei so gewesen, verdienen sie dann Glauben? Blinden Glauben? Ohne Nachfragen, weil solcher Zweifel schon von Übel und gegen Gott wäre? Glauben nur dann, wenn ihre Vorgänger dies auch so bezeugten? Alle Vorgänger oder nur die Mehrheit? Aber wenn andere Gottesmänner anderer Meinung sind oder fordern, dies müsse man so oder so verstehen, wem gebührt dann Glauben? Oder wenn in den heiligen Schriften Widersprüchliches auftaucht? Oder gar, wenn der Glaube gefordert wird für Erzählungen, die der Vernunft sonst nicht begegnen? Die den gesicherten Erkenntnissen der Naturwissenschaften widersprechen?
Kann die Religion, darf sie dann den Befehl geben: Augen der Vernunft zu! - und durch? Weil die Gläubigen es gar nicht so genau wissen wollen. Weil die Übereinstimmung zwischen Glaube und Vernunft in der Geschichte der Religionen nicht immer - anders als im europäischen Raum der Aufklärung - das Wichtigste für die Menschen war. Wenn aber doch? Wenn
der Einklang zwischen Glaube und Vernunft vor einer (vermeintlichen oder wirklichen) Offenbarung Gottes, die Versöhnung mit Wissenschaft und Technik, die Harmonie zwischen Religiösen und der zivilen pluralistischen Gesellschaft gefordert wird? Und was, wenn grundsätzlich die Möglichkeit einer Offenbarung bestritten wird, weil sich Gott nicht offenbaren kann, weil Gott zu groß und unpersönlich ist oder weil es ihn nicht gibt? Fragen über Fragen.
Auf dem Konzil standen sich zwei Lager gegenüber, die Vertreter der »römischen Theologie«, die am liebsten - mit kleinen Zugeständnissen - »Augen zu!« gerufen hätten, und jene Theologen, die an zwei Jahrtausende der Bemühungen um die heiligen Schriften anknüpften. An die Jahrzehnte der Entstehung der Evangelien und Apostelbriefe, an die Kommentare der Kirchenväter der ersten Jahrhunderte und ihre verschiedenen Sinndeutungen, an die Kirchenlehrer des Mittelalters und ihre feinsinnigen Sentenzen, an die Erkenntnisse der neuzeitlichen Bibelwissenschaftler mit ihren historischen und literaturkritischen Methoden.
Gegen Angst und Verengung
Paul VI. bestätigte in einer Grundsatzentscheidung die zweite Tradition, gegen die Angst und Verengung der »Religiöseren«. In der Nachfolge Pius’ XII., der im September 1943 mit der Enzyklika »Divino afflante Spiritu« (»Unter Eingebung des göttlichen Geistes«) moderne Prinzipien aus der Summe der überprüfbaren Geisteswissenschaften in der katholischen Bibelforschung gebilligt hatte.
So konnte das Konzil in einer »Dogmatischen Konstitution« mit hoher Verbindlichkeit - auch der, nun eben nicht immer alles wortwörtlich glauben zu müssen - für die Gläubigen folgende Prinzipien festschreiben:
»12. Artikel. Da Gott in der Heiligen Schrift durch Menschen nach Menschenart gesprochen hat, muss der Schrifterklärer, um zu erfassen, was Gott uns mitteilen wollte, sorgfältig erforschen,
was die heiligen Schriftsteller wirklich zu sagen beabsichtigten und was Gott mit ihren Worten kundtun wollte.
Um die Aussageabsicht der Hagiografen [der Verfasser der heiligen Schriften] zu ermitteln, ist neben anderem auf die literarischen Gattungen zu achten. Denn die Wahrheit wird je anders dargelegt und ausgedrückt in Texten von in verschiedenem Sinn geschichtlicher, prophetischer oder dichterischer Art oder in anderen Redegattungen. Weiterhin hat der Erklärer nach dem Sinn zu forschen, wie ihn aus einer gegebenen Situation heraus der Hagiograf den Bedingungen seiner Zeit und Kultur entsprechend - mithilfe der damals üblichen literarischen Gattungen - hat ausdrücken wollen und wirklich zum Ausdruck gebracht hat. Will man richtig verstehen, was der heilige Verfasser in seiner Schrift aussagen wollte, so muss man schließlich genau auf die vorgegebenen umweltbedingten Denk-, Sprach und Erzählformen achten, die zur Zeit des Verfassers herrschten, wie auf die Formen, die damals im menschlichen Alltagsverkehr üblich waren.
Da die Heilige Schrift in dem Geist gelesen und ausgelegt werden muss, in dem sie geschrieben wurde,
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