Zwischen uns das Meer (German Edition)
besucht. Wenn er kommt, tue ich so, als würde ich schlafen. Ich liege da, lausche auf seinen Atem und halte die Augen geschlossen. Ich bin so ein Feigling geworden! Er hat die Mädchen nicht einmal mitgebracht. Ich weiß warum: Sie haben Angst. Wenn sie mich sehen, merken sie, dass ich mich verändert habe. Und dann fragen sie sich, ob ihre Welt je wieder so werden wird wie früher. Ich hab Betsy angeschrien, als sie gegen mein Bein gestoßen ist. Ich wollte es nicht, aber jetzt kann ich es nicht mehr zurücknehmen. Ich sollte sie trösten, aber ich kann nicht. Ich finde keinen Trost in mir. Jedes Mal, wenn ich an sie denke, würde ich am liebsten weinen.
Vielleicht würde ich wieder gesund, wenn ich schlafen könnte. Zumindest ginge es mir vielleicht besser. Aber ich habe ständig Alpträume. Dann höre ich, wie meine Crew nach mir schreit, wieder und wieder und wieder. Ich sehe, wie Tami die Arme nach mir ausstreckt. Langsam wird das so schlimm, dass ich mich nicht mehr traue, die Augen zu schließen.
Michael saß in seinem weichen Schreibtischsessel im Büro und starrte aus dem Fenster. Es war ein trüber Oktobertag, Viertel vor elf vormittags, neun Tage nach der Rückkehr seiner Frau.
Jetzt war sie wohl in der Physiotherapie und versuchte, Dinge zu lernen, die früher ganz selbstverständlich für sie gewesen waren.
Seine Sprechanlage summte. »Michael? Dr. Cornflower möchte Sie sehen.«
»Schicken Sie ihn rein«, bat er und stand auf.
Der Psychiater betrat das Büro.
»Chris«, sagte Michael und versuchte, sich auf ihn zu konzentrieren. »Hallo. Danke, dass Sie Zeit für mich haben.«
Chris strich sich eine Haarsträhne hinters Ohr, die sich aus seinem Pferdeschwanz gelöst hatte. Heute trug er ein schwarzes T-Shirt, eine fransengesäumte Lederweste, ausgebeulte Hosen und schwarze Kunststoffclogs. Er hatte sich eine teure Kuriertasche aus Leder übergeworfen. Jetzt nahm er sie ab, wühlte darin und holte eine grüne Akte heraus, die er auf den Tisch legte. »Meiner Meinung nach besteht kein Zweifel daran, dass Keith an einer schweren posttraumatischen Belastungsstörung leidet und wahrscheinlich dekompensierte, als er seine Frau umbrachte.«
»Und das würden Sie auch vor Gericht aussagen?«
Chris setzte sich und schlug lässig die Beine übereinander. »Das würde ich.«
»In einem Anzug?«
Chris lächelte. »Sie würden staunen, wie gepflegt ich aussehen kann, Michael.«
»Gut. Dann erzählen Sie mir alles, was ich wissen muss.« Michael nahm wieder hinter seinem Schreibtisch Platz.
»Ich habe ein detailliertes Gutachten beigelegt, das Sie sich anschauen können, daher beschränke ich mich aufs Wesentliche. Zunächst einmal möchte ich Ihnen erklären, wie wir eine Diagnose stellen. Wir beginnen mit Fragen, die ergeben sollen, ob der Patient ein Ereignis mit angesehen oder erlebt hat, bei dem es schwere Verletzungen oder gar Todesfälle gab. Zu den Ereignissen im Krieg, die in den meisten Fällen zu posttraumatischen Belastungsstörungen führen, gehören Angriffe und Hinterhalte, Raketen- oder Mörserbeschuss, überhaupt Beschuss, dann die Verantwortung für den Tod von Zivilisten oder feindlichen Soldaten oder der Anblick oder Umgang mit schwer verletzten Amerikanern oder Leichenteilen von Amerikanern. Offenbar wird alles noch schlimmer, wenn es dabei um Kameraden geht, die verletzt oder getötet werden. Wie Sie wissen, hat Keith eines der schlimmsten Gefechte des Krieges mit angesehen. Es wurde fast ununterbrochen geschossen und bombardiert. Vierundsechzig Soldaten seiner Brigade starben in seinem ersten Dienstjahr. Was Sie nicht wissen, ist, dass Keith oft den Auftrag hatte, die sterblichen Überreste von Kameraden einzusammeln. Auch Überreste von Freunden.«
»Guter Gott«, murmelte Michael.
»Ich glaube, der Marktbesuch hat bei ihm etwas getriggert. Die Menschenmassen und die vielen Bewegungen haben ihn alarmiert und in Angriffsbereitschaft versetzt. Er fing an zu trinken, um sich zu beruhigen, aber das funktionierte nicht. Als der Obdachlose ihn anging, reagierte Keith so, wie man es ihm beigebracht hatte. Er griff an. Er hat keine bewusste Erinnerung an das, was zu Hause passiert ist, aber ich nehme an, dass ein weiterer Auslöser – ein lautes Geräusch, ein aufblitzendes Licht oder Ähnliches – ihn plötzlich wieder in den Krieg zurückversetzt hat. In diesem dissoziativen Zustand reagierte er so, wie man es ihm beigebracht hatte – er verteidigte sich und tötete den
Weitere Kostenlose Bücher