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Zwischen uns das Meer (German Edition)

Zwischen uns das Meer (German Edition)

Titel: Zwischen uns das Meer (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kristin Hannah
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einfach nur an.«
    Während er das sagte, legte er seine Hände auf das, was von ihrem Bein geblieben war – ihrem sogenannten Restbein . Stumpf sagte man nicht; das war ein zu hässliches Wort.
    Du schaffst das, Jo , dachte sie verzweifelt. Du kannst alles schaffen. Du musst einfach nur hingucken. Das erste Mal ist das schwerste. Aber das sagte die alte Jo, und ihre Stimme war leise und leicht zu überhören.
    Conny löste langsam den Verband, so langsam, dass ihr klar wurde, er wollte ihr damit Zeit lassen, sich an den Anblick zu gewöhnen. Er hob ihr Bein ein bisschen an, löste die Bandage von der Rückseite und kam dann wieder zur Vorderseite.
    Sie dachte, sie müsste sich übergeben. Durchhalten, Jo. Durchhalten. Ihre Fingernägel bohrten sich in ihre Handfläche. Sie spürte, wie ihr der Schweiß ausbrach.
    Da löste er die letzte Verbandsschicht und legte alles auf das Laken neben ihrem gesunden Bein. Nun war nur noch eine dünne Gaze geblieben. Darunter sah sie ihre geschwollene, verfärbte Haut. Sie kniff die Augen zu.
    »Jo?«
    »Ich sehe nicht hin«, flüsterte sie. »Ich kann nicht.«
    »Ganz ruhig atmen. Konzentrieren Sie sich einfach auf meine Stimme, ja? Ich werde jetzt Ihr Bein massieren. Das ist gut für die Blutzirkulation. Wenn Sie bereit sind, bringe ich Ihnen bei, wie Sie es selbst machen können.«
    Sie zuckte zusammen und spürte wieder einen Anflug von Übelkeit, als er ihre Haut berührte. Unwillkürlich gab sie ein leises Wimmern von sich.
    »Atmen, soldier girl .«
    Sie stieß einen lauten Seufzer aus.
    Nach und nach spürte sie, wie seine Finger sich bewegten, wie sie ihr Bein massierten und die verkrampften Muskeln lockerten. Und es war wie Magie. Plötzlich ließ sie die Schultern sinken und öffnete ihre Faust. Ihr Kopf sackte leicht nach vorn.
    »Na bitte«, sagte er nach einer ganzen Weile. Sie war schon fast eingeschlafen. »Jetzt können Sie die Augen öffnen, Jolene.«
    »Ist es bedeckt?«
    »Ja. Sie sind bedeckt.«
    Sie hörte den leisen Nachdruck in seiner Antwort. Langsam hob sie den Kopf und öffnete die Augen.
    Der Verband war wieder an Ort und Stelle, enger diesmal. Die silbernen Verschlussklemmen sahen fast so aus wie die Rangabzeichen eines Offiziers.
    »Danke. Es geht jetzt besser mit den Schmerzen.«
    » Ihnen wird’s bessergehen, Jolene. Vertrauen Sie mir.«
    »Früher war ich nicht so gemein.«
    Er kam noch mal zu ihr ans Kopfende. »Sie sind nicht gemein. Sie haben nur Angst. Wirklich gemein ist meine Frau.« Er grinste. »Aber trotzdem liebe ich sie wie verrückt.«
    »Früher hatte ich auch keine Angst.«
    »Dann haben Sie sich selbst belogen. Jeder hat ab und zu Angst.«
    Darauf hatte sie keine Antwort. Im Laufe der Jahre hatte sie sich oft selbst belogen – oder einfach nicht hingeschaut. Anders hatte sie sich nicht zu helfen gewusst. Es war ihre Art zu überleben. Und das war gut gewesen, denn ihre Angst war unerträglich. Sie entblößte sie, so wie Conny ihr hässliches schmerzendes Bein entblößt hatte.
    Die Nervenenden waren angeblich das Problem. Etwas, das gekappt worden war, zu abrupt endete oder starb – wie Ehen oder Eltern –, hörte nie auf, weh zu tun.
    Sie wusste, er erwartete von ihr, dass sie stärker war, sich mehr Mühe gab und daran glaubte, dass es ihr eines Tages bessergehen würde. Aber das wollte sie nicht. Sie wollte ihr altes Leben zurück, ihr altes Selbst, und beide waren weg, so sauber von ihr abgetrennt wie ihr Bein.
    »Versuchen Sie es nur. Mehr verlange ich nicht.«
    Versuchen. Das war dasselbe wie »Glauben«, und das hatte sie aufgegeben.
    »Verschwinden Sie, Conny«, seufzte sie und schloss die Augen.
    OKTOBER
    Draußen regnet es. Wohin ich auch blicke, sehe ich nur Tränen. Irgendwas stimmt nicht mit mir, und das liegt nicht nur an meinem amputierten Bein.
    Ich fühle mich ständig schwach und verfalle in Selbstmitleid. Ich schäme mich auch dafür, aber ich kann nicht anders. Conny kommt mit seinem fetten Grinsen ins Zimmer und meint, ich müsste es nur mal versuchen. Er zeigt mir Fotos von Frauen, die mit Prothesen Tennis spielen, und ich verstehe, was er meint, ehrlich. Aber irgendwie scheine ich mir völlig gleichgültig zu sein. Welches Recht hab ich zu laufen, wenn Tami im Koma liegt und um ihr Leben kämpft, und wenn Smitty irgendwo in einer Kiste unter der Erde ruht und nie wieder lächeln, nie wieder sagen wird: »Hey, Chief, spielen wir Karten?«
    Ich bin jetzt seit acht Tagen hier, und Michael hat mich jeden Tag

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