Zwischen uns das Meer (German Edition)
funktionieren. Danach war sie schon wieder erschöpft. Aber sie musste sich noch anziehen, frisieren und die Zähne putzen. Allein der Gedanke daran laugte sie aus.
»Sind wir fertig?«, fragte Gloria.
»Ich schon«, antwortete Jolene und bemühte sich um einen normalen Tonfall.
Langsam wurde sie richtig wütend. Und man musste nicht Sigmund Freud sein, um den Grund zu erraten.
Sie hatte Angst davor, ihren Gips abgenommen zu bekommen.
Solange er noch dran war, konnte sie hoffen. Sie konnte ihn sich ansehen und sich vorstellen, wie darunter die Nerven in ihrer Hand wieder zusammenwuchsen und stärker wurden. Aber heute würde sie es ganz sicher wissen. Heute würde sie erfahren, ob sie eine Frau mit zwei gesunden Händen war oder nicht.
Sie ließ sich wieder von Gloria in den Rollstuhl helfen, so demütigend es auch war.
»Conny kommt in ein paar Minuten, um mit Ihnen zur Gipsabnahme zu fahren. Möchten Sie solange ins Bett?«
»Könnten Sie mich zum Fenster schieben? Ich würde gerne hinausgucken.«
»Natürlich.« Gloria rollte Jolene zum Fenster. »Heute wird ein wunderschöner Herbsttag.« Sie tätschelte Jolene die Schulter und ging. An der Tür blieb sie noch einmal stehen und wandte sich zu ihr. »Ach, das hätte ich fast vergessen. Maudeen Wachsmith von der Verwaltung möchte wissen, was wir mit Ihrer Post machen sollen.«
»Ich habe Post?«
»Sieht so aus.«
»Ach. Tja. Dann bringen Sie sie mir.« Jolene wandte sich wieder zum Fenster.
Der Himmel draußen war hellgrün und mit Wolkenfetzen überzogen. Hinter dem Parkplatz schirmten riesige Zedern alles dahinter Liegende ab. Vor ihrem Fenster klammerte sich ein alter Kirschbaum hartnäckig an eine Handvoll schwärzlicher Blätter. Noch während sie ihn betrachtete, löste sich eins und trudelte zu Boden.
»Da sind Sie ja, soldier girl . Schön, Sie auch mal außerhalb Ihres Betts anzutreffen.«
»Ich hab gerade daran gedacht, ein Rad zu schlagen.«
Conny lachte. »Sie sind eine richtige Sportskanone, Jolene. So viel steht fest.«
Er trat hinter ihren Rollstuhl und schob sie aus dem Zimmer. Auf dem Weg durch die Korridore betrieb er eifrig Small Talk: über die neue Frisur seiner Frau, die Beförderung seiner Tochter, seine Rückenschmerzen am Morgen.
»So, da sind wir.«
Jolene wurde angemeldet und dann in ein Untersuchungszimmer geschoben.
Kurz darauf klopfte es an ihrer Tür und herein kam ein dünner Mann mit weißem Kittel, graumeliertem, zerzaustem Haarschopf und einer großen Nase. Ihr war sofort klar, dass sie nicht mit gepflegtem Geplauder rechnen konnte.
Bei seinem Eintritt murmelte er einen Gruß, hielt den Blick aber auf ihre Akte gerichtet. Dann legte er sie beiseite und sah sie an. »Ich wette, Sie wollen unbedingt wissen, wie Ihre Hand funktioniert.«
Sie nickte, weil sie kein Wort herausbrachte.
Er zog einen Stuhl zu ihr heran und nahm vor ihr Platz. Kurz darauf hatte er den Gips abgenommen.
Als sie auf ihren rechten Unterarm blickte, war sie erschrocken, wie dünn und blass er war. Auf ihrem Handrücken war eine leuchtend rote Narbe zu sehen.
Der Arzt berührte äußerst vorsichtig ihre Hand. »Können Sie das spüren?«
Sie nickte.
»Versuchen Sie mal, eine Faust zu machen.«
Sie starrte auf ihre Hand und dachte: Komm, komm, komm und bitte , und dann, langsam, ganz langsam, sah sie, wie ihre Finger sich krümmten.
Jolene stieß einen Seufzer der Erleichterung aus.
Der Arzt lächelte. »Ausgezeichnet. Können Sie den Arm heben?«
Sie konnte.
Sie konnte.
Nachdem sie den Bewegungstest absolviert hatte, strahlte sie. Und nach der Untersuchung rollte sie selbständig aus dem Zimmer. Es war ziemlich anstrengend, ihre rechte Hand zur Mitarbeit zu zwingen, aber sie schaffte es.
»Sie sehen gut aus, soldier girl «, empfing Conny sie und erhob sich von seinem Platz im Wartezimmer.
Er schob sie zu ihrem Zimmer zurück und stellte sie wieder am Fenster ab. »Physiotherapie in einer Stunde. Wir müssen jetzt auch an der Funktion Ihrer rechten Hand arbeiten«, verkündete Conny. »Und Sie können mit den Krücken anfangen.«
»Ich glaube, ich bin noch nicht so weit, nach Hause zu gehen, Conny. Wir könnten es verschieben, bis …«
»Bis wann?«
Sie sah seinen verständnisvollen Blick. Es beschämte sie, dass sie sich so schwach zeigte. »Bis ich bereit bin«, beendete sie lahm den Satz.
»Heute«, sagte er leise.
Als er fort war, starrte sie hinaus in den Sonnenschein und quetschte den Ball, den er ihr dagelassen
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