Zwischen uns das Meer (German Edition)
hatte. Ich hab’s geschafft, Tami.
Ja, das hast du, Flygirl.
Jolene hätte geschworen, dass sie das wirklich gehört hatte, aber sie war allein im Zimmer. Sie blickte aus dem Fenster. Warst du das, Tami?
Wie gerne hätte sie das geglaubt! Sie wollte glauben, dass ihre beste Freundin eine Möglichkeit gefunden hatte, über die riesige Entfernung hinweg mit ihr zu kommunizieren. Vielleicht bedeutete das auch, dass Tami aus dem Koma erwacht war …
»Mrs Zarkades?«
Sie blickte über die Schulter. Ein Soldat in Uniform stand mit ein paar mit Gummiband zusammengehaltenen Briefen in der Tür.
»Ich habe hier Ihre Post.«
»Ist gut, danke.«
Er trat ein und legte die Briefe auf den Tisch neben ihr. Überrascht starrte sie darauf. Schließlich nahm sie den Stapel und zog den obersten Brief heraus. Er kam von jemandem aus Kansas.
Liebe Jolene Zarkades,
ich habe in der Topeka Gazette von Ihnen gelesen. Ich fasse es kaum, dass ich Ihnen – einer Fremden – schreibe, aber ich musste es einfach tun.
Ich schließe meine Augen und denke an Sie, weil ich genau weiß, wie Sie sich fühlen.
Ich war vierzehn, als ich mein Bein verloren habe. Ein ganz normales Mädchen aus einer Kleinstadt, das sich Sorgen um Pickel und Klassenarbeiten machte und sich fragte, wann es wohl seinen ersten BH bekommen würde. Keine Helikopterpilotin oder sonst was Cooles.
Und dann hieß es plötzlich: Krebs.
Meine Mom weinte viel mehr als ich. Ich machte mir vor allem Sorgen darüber, anders zu sein als die anderen. Sie sind wahrscheinlich eine starke Persönlichkeit, weil Sie ja in der Armee sind und so, aber ich wollte ganz sichergehen, dass Ihnen jemand sagt, wie wichtig es ist, liebevoll mit sich umzugehen. Ich wünschte, ich hätte das damals gewusst. Ich hab eine lange Zeit dazu gebraucht. Sie meinen vielleicht, Sie würden nie wieder ein normales Leben führen, aber da irren Sie sich. In kürzester Zeit werden Sie sich wieder mit Ihren Töchtern kabbeln – über ihre Pflichten und Entscheidungen. Dann wird es überhaupt nicht mehr um Ihr Bein gehen!
Gott segne Sie. Ich hab in der Kirche eine Kerze für Sie und Ihre Familie angezündet. Unsere Gebete gelten Ihnen.
Mit freundlichen Grüßen
Mavis Sue Cochran
Topeka, Kansas
Jolene wischte sich die Tränen aus den Augen, steckte den Brief zurück in den Umschlag und öffnete einen zweiten.
Chief,
ich bin Private First Class Sarah Merrin im Walter Reed Hospital und war sechs Monate drüben im Einsatz.
Eigentlich weiß ich nicht, was ich schreiben soll, oder warum ich es überhaupt tue. Vielleicht weil es hier so still ist. Und Sie eine Frau sind.
Ich habe letzte Woche mein Bein verloren. Jetzt befürchtet man, ich könnte auch das andere verlieren. Bei Explosionswunden ist die Infektionsgefahr hoch, aber das wissen Sie wohl. Ich werde noch eine ganze Weile hierbleiben.
Wie schaffen Sie das? Ich glaube, das ist es, was ich von Ihnen wissen will. Man hat mir gesagt, ich könnte irgendwann wieder gehen – sogar rennen –, aber das kommt mir unwahrscheinlich vor, und wenn ich mich so ansehe, muss ich sagen: Es ist kein schöner Anblick. Ich kann mir nicht vorstellen, dass mein Mann das aushält, wenn ich mich ausziehe.
Ein paar erhellende Worte von Ihnen würden mir sicher helfen.
Mit freundlichen Grüßen
Sarah Merrin
Jolene steckte den Brief wieder in den Umschlag zurück und starrte eine Weile darauf. Sie wusste, wie Sarah sich fühlte, in ihrem Krankenhausbett, weit weg von zu Hause und mit der Frage konfrontiert, was ihr geblieben war und was sie für immer verloren hatte.
Aber sie hatte ihr nichts Erhellendes zu schreiben.
Also musste sie Sarah Merrin wohl auf die Liste der Menschen setzen, denen sie nicht helfen konnte, die sie im Stich gelassen hatte.
Nach einem langen, zermürbenden Arbeitstag verließ Michael seine Kanzlei und fuhr zum Rehazentrum. Während er sich durch den dichten Berufsverkehr schob, dachte er über den Justizbeamten nach, den er heute getroffen hatte. Sie hatten mit der Auswahl der Geschworenen im Fall Keller begonnen. Jeder Strafverteidiger wusste, dass Fälle schon vor Prozessbeginn gewonnen oder verloren werden konnten, und zwar mit der Wahl der Jury. Er musste mitfühlende, liberale Geschworene finden, die glaubten, dass ein anständiger Mann durch den Krieg gebrochen werden konnte. Die Staatsanwaltschaft hingegen würde nach Hardlinern suchen, die der Meinung waren, psychische Störungen wären nur eine Ausrede für kriminelle
Weitere Kostenlose Bücher