Zwischen uns das Meer (German Edition)
für angeknackst gehalten – da solltest du mich jetzt mal sehen! Ich kann mir selbst nicht mehr trauen und habe ständig Alpträume … Gott, wie ich dich vermisse … wach wieder auf …
Jolene seufzte. Während sie so dalag und sich ihrer Angst und (gib’s zu, Jo) ihrem Selbstmitleid ergab, hörte sie, wie das Rehazentrum langsam zum Leben erwachte. Bald würde jemand mit ihrem Frühstück kommen, und jemand anderer würde ihr beim Toilettengang und der Dusche helfen.
Um neun Uhr tauchte Michael auf. Er kam ohne zu klopfen ins Zimmer marschiert.
Sie traute sich kaum, ihn anzusehen, so verletzlich fühlte sie sich. »Ich dachte, du hättest heute Zeugenbefragungen.«
»Ich wollte dich nicht allein lassen.«
Das sagte er so leichthin, dass sich die Vorstellung, sie wären noch ein Paar, wie ein Pfeil in ihr Herz bohrte. Glaub es nicht. »Danke.« Mehr brachte sie nicht hervor.
In dem Moment klopfte Conny laut an die Tür und trat ein. Es war ihm nicht anzumerken, ob er das unbehagliche Schweigen zwischen ihnen bemerkte. »Gut. Sie sind auch da, Michael. Dann los.«
Es war Jolene unangenehm, vor Michaels Augen in ihren Rollstuhl zu klettern – weil es so erbärmlich anstrengend für sie war –, doch sie merkte schnell, dass Conny keine Anstalten machte, ihr zu helfen. Also packte sie ihr Trapez mit der linken Hand, zog sich hoch, rutschte zu einer Seite des Betts und schwang ihre Beine darüber.
Es war immer noch ein Schock, auf nur einem Fuß zu landen, aber sie konzentrierte sich darauf, das Gleichgewicht zu halten. Michael wollte ihr den Rollstuhl heranschieben, aber sie schüttelte den Kopf, hüpfte einen Schritt, griff dann mit beiden Händen die Gummigriffe und ließ sich mit einem Seufzer auf dem Sitz nieder. Sie spürte, dass sie vor Anstrengung rote Wangen hatte, und sie atmete auch schon wieder schwer, aber sie hatte es ganz allein geschafft und verspürte deshalb einen Anflug von Zufriedenheit.
Conny lächelte sie an und nahm seinen Platz hinter dem Rollstuhl ein. Dann machten sie sich auf den Weg durch den Flur. Jolene sah zum ersten Mal, wie groß das Rehazentrum war. Schließlich landeten sie vor einer Tür mit der Aufschrift Prothesen .
Drinnen sah es aus wie in Frankensteins Labor. An Decke und Wänden hingen Hände, Füße, Arme und Beine aus Kunststoff in allen Farben, Größen und Formen.
Eine kleine Asiatin mit einer riesigen Brille kam aus einem Hinterzimmer. »Sie sind bestimmt Mrs Zarkades«, begrüßte sie sie.
»Nennen Sie mich Jolene. Dies ist mein Mann Michael.«
Die Frau nickte knapp. »Fangen wir an.«
Die nächste Stunde vermaß die Frau konzentriert und schweigend Jolenes Restbein und fertigte einen Gipsabdruck davon an.
Während der Gips trocknete, fragte Michael: »Wieso kann nicht jetzt schon die endgültige Prothese angepasst werden? Wozu noch das Provisorium?«
Die Asiatin blinzelte ihn durch die Riesenbrille an. »Ihr Beinstumpf wird noch erheblich abschwellen, was bedeutet, dass die Auflage mehrmals ausgetauscht werden muss. So sparen wir Zeit und Geld. Ein zusätzlicher Vorteil besteht darin, dass sie lernt, beweglich zu werden, während ihr Bein abschwillt. Es beschleunigt die Gesundung, wenn es belastet wird. Außerdem wird es desensibilisiert.« Vorsichtig entfernte sie den Gipsabdruck, den Jolene kaum ansehen konnte, und brachte ihn ins Hinterzimmer.
Danach ging es wieder zurück in Jolenes Zimmer.
»Bald können Sie schon laufen«, bemerkte Conny, als er sie zum Bett fuhr.
Jolene hievte sich auf das Bett, lehnte sich aufrecht sitzend gegen die Kissen und zog die Decke über die Beine.
»Um zwölf komm ich zur Physiotherapie zurück«, verkündete Conny.
»Ich Glückspilz«, erwiderte Jolene.
Conny lachte laut auf und verließ das Zimmer. Dann waren sie und Michael wieder allein.
»Tja«, sagte Jolene. »Ich muss noch ein bisschen schlafen, bevor Dschingis Khan mich wieder auf die Matte wirft und mich zu zweihundert Sit-ups zwingt.«
»Du weißt doch, dass du es schaffen kannst«, gab Michael zurück. »Was auch immer er von dir verlangt.«
Jolene sah ihn an und dachte daran, wie viel ihr früher seine Unterstützung bedeutet hatte. Sie wollte ihm gestehen, dass sie Angst hatte, nach Hause zu kommen, dass nichts für sie mehr sicher war. Und dass sie schreckliche Alpträume hatte. »Danke, dass du heute gekommen bist, Michael«, sagte sie stattdessen. »Das war doch nicht nötig.«
»Ich hab dich früher oft im Stich gelassen.«
»Ja«,
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