Zwischen uns das Meer (German Edition)
zusammengekniffene Augen betrachtete. »Die Pfanne ist zu heiß«, bemerkte ihre Tochter.
»Danke«, sagte Michael und legte auf.
Jolene lächelte. »Michael, Betsy meint, die Pfanne wäre zu heiß. Sagst du ihr bitte, ich hätte schon Pancakes gemacht, bevor sie überhaupt geboren war?«
Doch Michael starrte sie ernst an. »Vielleicht solltest du dich besser hinsetzen, Jo.«
»Hinsetzen? Wieso? Mein Bein tut nicht weh.«
»Betsy, mach den Pancake fertig«, befahl Michael.
»Wieso ich?«, protestierte Betsy. »Wieso muss ich immer alles machen?«
»Betsy«, wiederholte er so scharf, dass Jolene die Stirn runzelte.
»Michael?«, sagte sie. »Du machst mir Angst.«
Er nahm Jolene beim Arm und führte sie durchs Haus zu ihrem Zimmer. Als sie sich aufs Bett gesetzt hatte, blickte sie zu ihm hoch.
»Es geht um Tami.« Er nahm neben ihr Platz. »Sie ist gestern Nacht gestorben.«
Jolene stockte der Atem. Wie aus weiter Distanz nahm sie wahr, wie Michael sie in den Arm nahm, sie tröstete und ihr den Rücken rieb. Aber nichts davon erreichte sie.
Über zwanzig Jahre war Tami immer da gewesen und hatte ihr Stärke verliehen, wenn sie sich schwach fühlte. Ich gebe dir Rückendeckung, Flygirl.
Und Seth würde jetzt ohne Mom aufwachsen.
Sie keuchte auf und fing an zu schluchzen.
»Ist schon gut, Jo.« Michael strich ihr übers Haar.
»Nein«, zischte sie wild, weil sie plötzlich Wut überkam. »Es ist nicht gut. Meine beste Freundin ist tot, und es ist meine Schuld. Meine. Sie lag im Sterben, und ich habe sie zurückgelassen …« Ihr brach die Stimme. »Ich darf nie jemanden zurücklassen.«
»Jo …«
»Ich hab es satt, dass die Leute mir ständig sagen, es würde alles wieder gut werden. Es wird nicht wieder gut werden. Es wird nie wieder gut werden!«
Der Schmerz war unerträglich. Er vernichtete sie, zehrte sie vollkommen auf. Sie stolperte zum Nachttisch und griff nach den Schlaftabletten. Sie riss das Fläschchen auf und schüttete sich drei Tabletten in ihre zitternde Hand. »Ein bisschen Schlaf wird mir guttun«, sagte sie mit schriller Stimme. »Danach wird’s mir bessergehen.«
Das war gelogen. Es würde ihr nie mehr bessergehen, aber sie wollte die Augen vor ihrer Trauer verschließen und ihr entfliehen. Sie ertrug sie einfach nicht. Nicht mehr; sie war nicht mehr stark genug. Vielleicht blieb ihr einfach das Herz stehen … aber war das so schlimm?
Sie warf die Tabletten ohne Wasser ein, dann setzte sie sich mit hängendem Kopf aufs Bett und wartete, dass die Wirkung eintrat.
Michael kam näher zu ihr und nahm sie wieder in die Arme. Sie wusste, er verurteilte sie wegen der Schlaftabletten, fand sie erbärmlich schwach, aber das war ihr egal. Außerdem war es die Wahrheit: Sie war zusammengebrochen, und alle Kraft hatte sie verlassen.
Mit Tränen in den Augen sah sie ihn an. »Wir wollten doch zusammen alt werden. Wir wollten als alte Frauen auf unseren Schaukelstühlen sitzen und unser Leben Revue passieren lassen …«
Am Tag von Tamis Beerdigung kam Jolene nicht aus dem Bett.
Direkt nach dem Aufwachen goss sie sich ein Glas Wein ein. Sie kippte es herunter, schenkte nach und trank auch das zweite. Aber heute fand sie im Alkohol keinen Trost.
Sie hörte, wie im oberen Stockwerk die Dusche lief. Michael war aufgestanden.
Sie warf die Decke zurück, stand auf und schnallte sich ihre Prothese an. Dann ging sie langsam durch das Familienzimmer; jeder Schritt, jede Delle, jede Schramme, jede Furche im Holzboden war ihr bewusst. In den letzten Wochen hatte sie mit ihrer Prothese gute Fortschritte gemacht, sie konnte sie jetzt fast ständig tragen, und ihre Bewegungen wurden mit jedem Tag sicherer.
Am Flickenteppich setzte sie den künstlichen Fuß besonders sorgfältig auf, um nicht auszurutschen. Dann ging sie weiter, die Treppe hinauf. Schritt, Prothese anheben, platzieren, Schritt. Jede Stufe erforderte enorme Konzentration und Entschlossenheit. Als sie zum Elternschlafzimmer kam, schwitzte sie.
Sie sollte nicht hier oben sein. Die erste Etage war tabu für sie, weil keiner ihr zutraute, die Treppe hinaufzugehen. Eigentlich trauten sie ihr gar nichts zu. Sie konnte es ihnen nicht verdenken.
Sie hinkte zum Schrank und öffnete die Lamellentüren. Ihre Kleider hingen alle noch ordentlich aufgereiht da.
Als Erstes fiel ihr Blick auf ihre Uniform, den Kampfanzug mit dem schwarzen Barett, das an die Brust geheftet war. Im Irak hatten Tami und sie sie fast jeden Tag getragen …
Dahinter
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