Zwischen uns das Meer (German Edition)
Kunstfuß blieb an der Gummimatte hängen.
Sie wusste, dass sie jetzt etwas zu ihrer Familie hätte sagen sollen. Sie musste ihnen ihr Unbehagen nehmen und ihnen zeigen, dass es ihr gutging.
Aber ihr ging es nicht gut, und das wussten sie. Jetzt hatten sie wieder Angst vor ihr, Angst davor, dass sie explodieren, weinen, schreien oder vielleicht sogar gewalttätig werden würde.
Es war ihr egal. Die Taubheit hatte wieder von ihr Besitz ergriffen, und dieses Mal war sie dankbar dafür.
Michael startete den Motor und öffnete das Garagentor. Knarrend fuhr es hinter ihnen hoch.
Draußen nieselte es. Die Tropfen waren fein, fast durchsichtig, nur am leichten Pladdern auf dem Dach hörte man, dass es wirklich regnete. Michael machte sich nicht mal die Mühe, die Scheibenwischer einzuschalten.
Das Radio ging an. Aus den Lautsprechern dröhnte Purple Rain.
Jolenes Kopf fuhr nach links, und für den Bruchteil einer Sekunde saß Tami neben ihr, wiegte sich hin und her, klopfte mit den Fingern aufs Lenkrad und sang aus voller Kehle pur-ple rain … purhurple rain …
Michael schaltete das Radio aus. Erst als er sie ansah, eine Hand auf ihren Oberschenkel legte und ihn sanft drückte, merkte sie, dass sie weinte.
Sie blickte ihn an und dachte: Wie soll ich das durchstehen?
Michael drückte wieder ihr Bein.
Sie wandte sich von ihm ab und sah aus dem Fenster. Jenseits der Uferstraße, auf der sie fuhren, war das Wasser heute glatt und glitzerte silbern wie eine blanke Münze. Als sie auf die Front Street einbogen, hatte es aufgeklart. Eine fahle Sonne drang durch die grauen Wolken und umrandete sie mit zitronengelbem Licht. Im Nu erwachte alles zu lebendiger Farbenpracht: Die grünen Bäume am Straßenrand schienen die Sonne förmlich zu schlucken und innerlich zu glühen.
In der Stadt herrschte Stoßverkehr.
»Sie haben alle die Scheinwerfer an«, bemerkte Michael.
»Aber es ist doch gar nicht dunkel«, sagte Lulu vom Rücksitz.
»Das ist für Tami«, erklärte Mila leise.
Jolene riss sich aus der Dunkelheit in ihrem Innern und sah sich um. Der Leichenwagen befand sich etwa drei Wagen vor ihnen und bewegte sich nur langsam vorwärts. Der gesamte Trauerzug bestand aus annähernd hundert Wagen.
Jetzt fuhren sie durch den Ort. An beiden Seiten der Straße drängten sich die Leute vor den Läden, standen in Grüppchen zusammen und winkten dem vorbeifahrenden Leichenwagen zu.
Überall waren Fahnen – an Masten und Pfosten und Straßenlaternen. Gelbe Bänder flatterten im leichten Wind – an Türknäufen, Blumenkästen und Autoantennen. Im Schaufenster des Buchladens hing ein Plakat mit der Aufschrift Leb wohl, Tami Flynn, gute Heimreise.
Als sie nur ein paar Blocks weiter das Ortsende erreicht hatten, waren es schon Hunderte von Menschen, die dem vorbeifahrenden Leichenwagen zuwinkten.
Ein Hupkonzert begann, als der Trauerzug in den Friedhof einbog. Oben auf dem Hügel angekommen, konnte man meilenweit sehen: auf den Sund, den Ort und die gezackten, schneebedeckten Olympic Mountains.
Nachdem sie geparkt hatten, saß Jolene so lange reglos da, dass ihre Familie sich schon Sorgen machte. Sie bombardierten sie mit Fragen, als wären es winzige Pfeile, bis sie seufzte: »Mir geht’s gut« und aus dem Wagen stieg.
Die Familie mischte sich unter die Trauernden, von denen etliche Uniform trugen.
Plötzlich hörte Jolene hinter sich das charakteristische Dröhnen von schweren Motorrädern.
Ohne es zu wollen, drehte sie sich um. Immer noch strömten Wagen mit eingeschalteten Scheinwerfern auf den Friedhof. Und mitten im Trauerzug fuhren etwa dreißig Harley-Davidsons in Formation; an den Motorrädern waren Flaggen angebracht, die jetzt im Fahrtwind flatterten: von den Vereinigten Staaten, der Armee und der Nationalgarde. Es war ein farbenprächtiger Anblick. Jolene sah, dass es Biker in jedem Alter gab und fast alle Uniform trugen.
Patriot Riders, ein Motorradclub, der gefallenen US-Soldaten das Ehrengeleit gab.
Sie stolperte; Michael fasste ihren Arm und stützte sie. Sie bedankte sich mit einem knappen Lächeln, straffte die Schultern und humpelte weiter.
Als sie um eine Biegung gingen, erblickte sie ihr Ziel: Auf einem Vorsprung über dem Sund stand ein grüner Zeltpavillon auf vier silbern blitzenden Metallstangen. Darunter sah sie einen Sarg, der mit der amerikanischen Flagge bedeckt war.
Hunderte von Trauernden umstanden ihn. Dahinter sah man eine Reihe Fahnen von der Nationalgarde, der Armee und den
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