Zwischen uns das Meer (German Edition)
ist nicht zu spät«, erwiderte sie und versuchte ruhiger zu atmen. »Aber ich bin noch nicht bereit …«
In dem Moment lächelte er endlich, und es war das Lächeln, mit dem er sie all die Jahre zuvor im Sturm erobert hatte. Wie lange hatte sie dieses Lächeln nicht mehr gesehen? Er ging zum Nachttischchen, zog die Schublade auf und nahm eine kleine Plastiktüte heraus.
Sie hörte das metallische Klirren, als er sie öffnete, und wusste, was sich darin befand. Warum hatte sie nicht schon früher daran gedacht? Es waren ihre persönlichen Sachen – ihre Hundemarke, ihre Uhr und ihr Ehering –, die man ihm in Deutschland gegeben hatte. Er nahm etwas aus der Tüte, bevor er sie zurück in die Schublade legte und diese zuschob.
Zittrig holte sie Luft.
Er kam wieder zu ihr und nahm ihre linke Hand. Ohne den Blick von ihr abzuwenden, streifte er ihr den Ehering über den Finger. »Irgendwann wirst du bereit sein«, sagte er, und die Gewissheit in seiner Stimme berührte sie tief.
Sie sah ihm nach, als er das Zimmer verließ und die Tür hinter sich schloss. Zweimal hätte sie ihn fast zurückgerufen und gesagt: Ich hab mich geirrt, ich bin doch bereit, aber sie hatte zu viel Angst.
Sie hüpfte ins Bad und machte sich bettfertig. Dann kletterte sie unter die dicke Bettdecke, schob die Kissen unter ihrem Restbein zurecht und schloss die Augen. Sie hatte fast vergessen, wie schwer der schlichte goldene Ring an ihrem Finger war. Zum ersten Mal seit Wochen ging sie ohne Schlaftabletten oder ein Glas Wein schlafen. Keith hatte recht. Sie würde seinen Rat befolgen. Sie würde zu den Menschen heimkehren, die sie liebten – ihrem Mann, ihrer Familie. Dazu würde sie doch wohl in der Lage sein. Schließlich war sie in den Irak gegangen und hatte im Gefecht Helikopter geflogen. Wie konnte es schwerer sein, nach Hause zu kommen, als in den Krieg zu ziehen?
Ihr letzter Gedanke vor dem Einschlafen war: Morgen fange ich noch mal ganz von vorne an, Tami. Ich werde wieder Mutter sein. Ich werde endlich nach Hause kommen.
S ECHSUNDZWANZIG
Als Jolene aufwachte, fiel fahlgelbes Sonnenlicht durchs Fenster und beleuchtete alles im Zimmer – auch das leere Weinglas auf ihrem Nachttisch und die Sammlung dunkler Pillenfläschchen. Heute war der Tag, an dem sie all das aufgeben würde. Schluss mit den Schlaftabletten, Schluss mit dem Wein, um ihre angegriffenen Nerven zu beruhigen. Sie schloss die Augen und stellte sich alles genau vor: Sie würde voller Zuversicht aufstehen, in die Küche gehen und Frühstück für die Mädchen machen. Dann würde sie sie beiseitenehmen und ganz offen zu ihnen sprechen. Sie würde ihnen erzählen, wie der Krieg ihrem Geist eine Weile zugesetzt hatte, aber dass das jetzt vorbei wäre, weil sie nun damit umgehen konnte. Dass sie bereit war, wieder ihre Mom zu sein, und dass sie sie immer, immer geliebt hätte, selbst als ihre Verwirrung am schlimmsten gewesen war. Vielleicht würden sie das nicht verstehen und ihr auch nicht uneingeschränkt glauben, aber es wäre ein Anfang. Dann würde sie es ihnen Tag für Tag beweisen, indem es ihr immer besser ginge, indem sie stärker würde und ihre Liebe offener zeigte. Sie würde keine Angst mehr haben.
So stand sie auf, nahm ihre Krücken und ging damit ins Bad. Nur zehn Minuten später kam sie angezogen und mit Prothese wieder heraus, hinkte in die Küche und fing an, Frühstück zu machen. Heute gab es Pancakes – wie in guten alten Zeiten. Sie holte Blaubeeren aus dem Kühlschrank und bereitete den Teig vor. Ab und zu fiel ihr Blick auf ihren Ehering, was sie zum Lächeln brachte. Sie verspürte so viel Hoffnung wie schon lange nicht mehr.
Während sie Teig in die heiße Pfanne gab, hörte sie, wie Michael zu ihr trat. Er beugte sich über ihre Schulter. »Pancakes?«
»Ein Friedensangebot. In der Zeit, die ich zur Zubereitung brauche, hätte ich auch Quantenphysik lernen können.« Sie lächelte ihn an, und eine Sekunde lang waren sie wieder ein Paar. Wir können es schaffen, dachte sie.
»Jo …«
Um besser zu hören, was er sagte, lehnte sie sich an ihn, aber da klingelte das Telefon und Michael ging dran. »Hallo?« Offenbar war es seine Kanzlei, denn er runzelte die Stirn, setzte sich und senkte die Stimme, als er sagte: »Wann?«
Die Mädchen kamen in die Küche gerannt.
»Mommy macht Pancakes«, rief Lulu und strahlte, als sie sah, dass die Pancakes ganz normal aussahen.
Jolene wandte sich leicht um und sah, dass Betsy sie durch
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