Zwischen uns das Meer (German Edition)
dauerte lange Zeit, bis man dafür einen richtigen, medizinischen Begriff verwandte. Im Bürgerkrieg wurde es soldier’s Heart genannt, was für mich der passendste Name ist; im Ersten Weltkrieg hießen Betroffene Kriegszitterer , und im Zweiten Weltkrieg sprach man von Kriegsneurose . Mit anderen Worten: Der Krieg verändert jeden Soldaten, aber immer gibt es einige, die besonders gravierende Schäden davontragen.
Wie so viele andere Soldaten litt Keith nach seiner Rückkehr unter Stimmungsschwankungen, Gewaltausbrüchen, Wut und Paranoia. Die Fakten werden zeigen, dass an diesem schrecklichen Tag, als er mit seiner Frau zum Pike Place Market ging, verschiedene Begebenheiten ihn an den Krieg erinnerten. Es waren zu viele. In einer einzigen, tragischen Sekunde vergaß er, wo er war und wer er war, und reagierte so, wie sein Kampftraining und sein Adrenalinrausch es ihm vorgaben. In diesem Zustand, der einer Fuge ähnlich ist, erschoss er seine Frau. Warum? Das wissen wir nicht, weil Keith es nicht weiß, aber Sachverständige werden uns helfen, es zu verstehen.«
Michael schloss mit: »Keith Keller hatte in diesem Moment nicht die Fähigkeit zu entscheiden, ob er seine Frau töten wollte oder nicht. Er dachte, er wäre im Irak und täte das, wozu er ausgebildet worden war. Er hatte nie die Absicht, Emily zu töten. Keith muss nicht ins Gefängnis, sondern braucht Hilfe. Dieser Mann, der in den Krieg zog, um uns zu schützen, braucht jetzt unsere Hilfe. Wie können wir uns von ihm abwenden? Was an jenem furchtbaren Tag in seinem Haus geschah, war eine Tragödie, aber ganz sicher war es kein Mord. Ich danke Ihnen.«
Jolene stieß die Luft aus, die sie angehalten hatte. Fasziniert, wie hypnotisiert hatte sie ihrem Mann zugehört, und sie merkte, dass es den Geschworenen ebenso ging wie ihr. Man sah es daran, dass sie ihm gebannt an den Lippen hingen.
Als er sich wieder setzte, hatte sie das Gefühl, dass der Bann gebrochen war, und lehnte sich an die harte Holzlehne. Seine Worte – sein Verständnis – hatten sie überrascht und zutiefst berührt. Seit sie erwachsen war, diente sie in der Armee, und nie hatte sie diese Welt mit ihrem Mann teilen können. Es war der Ursprung ihrer Einsamkeit, ihrer Trennung und des Scheiterns ihrer Ehe.
Die Staatsanwaltschaft rief den ersten Zeugen auf, und in der nächsten Stunde vergaß sie sich selbst und Michael und hörte sich die Zeugenaussagen an.
Gegen Mittag entließ der Richter sie, und Jolene erhob sich. Eine Sekunde zu spät fiel ihr ein, dass sie auf ihrer Prothese stand. Der Marine neben ihr stützte sie.
Ihre Blicke trafen sich, dann sah er an ihr herunter.
»Al Anbar«, erklärte sie.
Er nickte, griff nach den Krücken und gab sie ihr.
»Danke«, sagte sie. Sie brachte ihre Krücken in Position, stellte sich in die Schlange und ließ die Leute vorbeiziehen, weil sie jemanden brauchte, der sie in der Menschenmenge stützte.
Als Michael sie am Arm berührte, war der Saal schon fast leer. Sie sah ihn an. In diesem Augenblick strömte all die Liebe und Leidenschaft, die sie einst für ihn empfunden hatte, wieder in ihr Herz; sie konnte sich so wenig dagegen stemmen wie gegen die Flut. »Wann hast du all das erfahren?«
»Meine Frau ist in den Krieg gezogen«, erwiderte er. »Und während sie fort war, erinnerte ich mich an sie. Es tut mir leid, dass ich dich so habe ziehen lassen … mit diesem Satz. Ich hätte so vieles sagen sollen. Ich verstehe, warum du meinen Brief nicht beantwortet hast, aber ich möchte noch eine Chance.«
»Deinen Brief? Was für …«
»Kannst du mir noch eine Chance geben, Jo?«
Sie schluckte hart. Selbst wenn sie gewusst hätte, was sie hätte sagen sollen, hätte sie keinen Ton herausgebracht.
Da trat ein Assistent zu Michael und flüsterte ihm etwas ins Ohr.
Michael nickte. Zu Jolene sagte er. »Keith würde gerne mit dir sprechen.«
»Mit mir? Warum?«
»Ich habe ihm von dir erzählt. Wahrscheinlich möchte er dir etwas mitteilen.« Er führte sie durch den Saal in ein Hinterzimmer, wo Keith mit Handschellen an einem alten Holztisch saß. Bei ihrem Eintritt stand er auf; seine Handschellen klirrten.
Er war so verdammt jung, und der Schmerz in seinen Augen zog sie magisch an.
Sie lehnte ihre Krücken an die Wand und ging die letzten drei Meter so zum Schreibtisch, wo sie ihm gegenüber Platz nahm. Es war eine wahre Erleichterung, als sie das Gewicht von der Prothese verlagerte.
»Chief«, sagte er.
»Nennen Sie mich
Weitere Kostenlose Bücher