Zwischen uns das Meer (German Edition)
wie Jolene. Sie sah, dass der Briefumschlag immer noch aus seiner Brusttasche ragte. Das erinnerte sie an ihren eigenen Brief von Tami, der immer noch ungeöffnet in der Schublade ihres Nachttischs lag. Seth trug die Hundemarke seiner Mutter um den Hals.
»Bleib bei deiner Mom«, befahl Michael Betsy. Er und Mila bahnten sich einen Weg durch die Menge, um die Schüsseln in die Küche zu bringen.
»Na toll«, murmelte Betsy.
Jolene bekam das kaum mit. Sie blieb an der Tür stehen, hörte die Leute reden und lachen, aber es drang kaum zu ihr vor. Tami hätte hier sein sollen. Es war ihr Haus …
Das kleine Fertighaus war voller Gäste; zwischen Küche und Esszimmer war jede freie Fläche von Speisen bedeckt. Ein Großteil ihrer Einheit von der Nationalgarde war hier. Und da, o Gott, waren Smittys Eltern, sichtlich gealtert durch die Trauer um ihren Sohn. Was sollte sie zu ihnen sagen? Was würden sie zu ihr sagen?
Auf einer Staffelei in der Mitte des Wohnzimmers stand ein riesiges Bild von Tami in Uniform. Sie lächelte fröhlich in die Kamera und winkte den Daheimgebliebenen. Jolene hatte dieses Foto nur wenige Wochen vor dem Absturz geschossen … Los, Tami, schenk mir dein echtes Lächeln, Tam, nicht so künstlich …
Sie schloss die Augen und versuchte, die Erinnerung zu verdrängen. Bis zehn zählen. Atmen. Sie musste zu Smittys Eltern gehen, um ihnen zu sagen, wie leid es ihr tat und wie tapfer ihr Sohn gewesen war. Er hat nicht gelitten. Das wollten sie doch hören, oder? Oder dass er mutig gewesen war? Lustig? Rücksichtsvoll?
Hinter ihr knallte eine Tür zu. Peng! Jolene schrie auf. Innerhalb einer Sekunde war sie wieder in Balad. Der Stützpunkt war unter Beschuss, und eine Bombe zischte an ihr vorbei. Sie packte Tami, befahl ihr, in Deckung zu gehen, und warf sich auf den Boden.
Sie schlug so hart auf, dass sie keine Luft mehr bekam und ihr schwarz vor Augen wurde.
Als sie sie wieder öffnete, sah sie helles Linoleum und viele Füße um sich herum. Keine Stiefel … kein Sand. Es roch weder nach Rauch noch nach Feuer.
Zutiefst beschämt bemerkte Jolene, dass sie in Tamis Haus auf dem Boden lag.
Ihre Familie, ihre Freunde und die Soldaten ihrer Einheit standen mit Gläsern in der Hand um sie herum und spähten, plötzlich ernst und besorgt, zu ihr herunter. Sie redeten. Mit ihr oder miteinander? Das konnte sie nicht sagen, sie hörte nur das Summen ihrer Stimmen. Michael stand neben Carl in der Küche. Aus einem anderen Zimmer dröhnte über die alten Lautsprecher der Stereoanlage Crazy for you.
»Oh, mein Gott«, schrie Betsy und rückte von Jolene ab. »Was ist LOS mit dir?«
Jolene sah, wie peinlich ihrer Tochter das Ganze war. »Tut mir leid, Betsy«, flüsterte sie und richtete sich mühsam auf. Jetzt zitterte sie, und sie konnte kaum atmen. Die mitleidigen Mienen der Umstehenden waren ihr verhasst.
Sie wusste, sie sollte etwas sagen, irgendeine lächerliche Entschuldigung äußern, fand aber keine. Sie sah auch an den Mienen ihrer Freunde, dass sie alle wussten, wie es um sie stand: Sie war jetzt verwundet, behindert. Verrückt.
Sie humpelte zur Haustür und trat hinaus in die Dunkelheit.
»Warte, Jolene!«, hörte sie Michael aus dem Innern des Hauses brüllen.
Aber sie knallte die Tür hinter sich zu und ging weiter, humpelte die Schottereinfahrt hinunter und über die Rasenfläche, die ihre Grundstücke trennte.
Als Michael sie einholte, war sie schon fast zu Hause. Er hielt sie am Arm fest und versuchte sie aufzuhalten.
Sie stieß ihn beiseite. »Lass mich in Ruhe.«
»Jolene …«
»Sag jetzt nichts«, zischte sie. Sie spürte, wie sie innerlich zusammenbrach und die Kontrolle verlor. »Lass mich in Ruhe.«
»Jolene, lass dir doch helfen.«
Sie drängte sich an ihm vorbei, ging ins Haus und humpelte sofort in ihr Zimmer. Als sie sich umdrehte, um die Tür zuzudrücken, trat sie falsch auf, so dass die Prothese über ihre Blasen rieb. Da explodierte eine Wut in ihr, die sie erzittern ließ, so mächtig war die Druckwelle. Plötzlich wollte sie die Prothese abreißen – weg damit! Sie ertrug sie einfach nicht mehr. Also lehnte sie sich gegen die Kommode, schnallte sie ab und schleuderte sie schreiend quer durchs Zimmer. Das hässliche Plastikbein traf gegen eine hübsche blau-weiße Porzellanvase, die Mila ihnen im Vorjahr zu Weihnachten geschenkt hatte, und zerschmetterte sie.
Jolene fing an zu lachen, obwohl es gar nicht komisch war – im Gegenteil –, aber sie konnte
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